Leuchtend wie eine Madonna

BAUMBAUERS ERBE Mit Achternbusch und Fallada zeigen sich die Münchner Kammerspiele zum Ende der Intendanz von Frank Baumbauer von ihrer besten Seite

VON JOHANNA SCHMELLER

Ovationen, minutenlang. Immer wieder werden die Schauspieler zurück auf die Bühne gerufen. Frank Baumbauer, der zum Ende der Spielzeit die Münchner Kammerspiele nach acht Jahren als Intendant verlässt, sieht man an diesem Wochenende dagegen nur flink durch das überfüllte Foyer huschen. Zu sprechen ist er derzeit nicht. Er wolle noch kein Resümee ziehen, erst in zwei Monaten, keine Sekunde schneller. Den Münchnern beweist er in zwei großen Premieren – bis Juni wird noch ein Experimentalprojekt folgen –, was sie an ihm haben: einen Mann mit dem Mut zu Tradition und großen Gegensätzen.

Zunächst aber heiratete am Samstag der 23-jährige „kleine Mann“ (nach Falladas gleichnamigen Roman) Johannes Pinneberg seine Freundin Emma Mörschel wegen einer Schwangerschaft. Monat für Monat zittert er vor seiner Entlassung, streitet sich mit seiner liederlichen Mutter, lässt sich schließlich doch von deren Liebhaber Jachmann helfen, der mal als böswilliger Gnom, mal als Tröster in Pinnebergs Ehe einzubrechen versucht. Aber Hauptsache, nicht „stempeln gehen“ müssen.

Falsches Selbstmitleid

Selbst wenn man von einer angeblichen, eher herbeiargumentierten Nähe zwischen der Bearbeitung von Falladas Roman und der aktuellen wirtschaftlichen Lage wenig hält – ging es doch der Arbeiterschicht um 1932 ums Überleben, dem heutigen Publikum dagegen „nur“ um die Vermeidung von Wohlstandsverlust –, die biedere, innige Art, mit der sich Pinneberg an sein „Lämmchen“ Emma klammert, erscheint in Luk Percevals Inszenierung als ein allzu nachvollziehbarer Wunsch nach Berechenbarkeit in unruhigen Zeiten.

Manchem mag dieser Pinneberg vielleicht auch klarmachen, dass er es in seinem Selbstmitleid längst übertreibt: Dann ertönt im Publikum ein erlöstes Lachen. Als er aber hilflos seinen kleinen Sohn, seinen „Murkel“ von sich streckt, ihn festhalten will und zugleich Angst hat, zuzupacken, verliert die Inszenierung ihren gewollt musicalhaften Grundton. In diesem Moment berührt Pinnebergs Angst den Zuschauer fast ebenso tief wie das Aufbegehren gegen die bayerische Provinz von Achternbuschs „Susn“ am Abend zuvor. In ihrem mehrstündigen Monolog, hingesprochen an den Mann als solchen in Gestalt eines Pastors oder eines schriftstellerisch aktiven Gatten (Bernd Moss), liefert Brigitte Hobmeier am Freitag eine Glanzleistung dieser Spielzeit ab.

Heimatgefühl wider Willen

Im Kerzenlicht und in einem aus Spiegeln improvisierten Beichtstuhl leuchtend wie eine Madonna, verführt ihre 17-jährige Susn zunächst den Pfaffen mit einer saftreichen Beichte. Im Hintergrund zieht ein Film mit den Koppeln Bayerns vorüber, blass wie müde gewordene Fotografien. Laut Leuchtanzeige „zehn Jahre später“ lässt Regisseur Thomas Ostermeier ihr dunkle Tinte wie schwarzes Blut über die Arminnenseiten fließen, so sehr wünscht sie nun, kaum in der Stadt angekommen, dass endlich „das Gewitter losbricht“. Als Enddreißigerin greint sie ihre Klagen hin an ihren sexuell unlustigen Mann, der sie „vernichtet“, wenn „ich’s mir woanders hol‘“, wenn „ich eine freie Handlung mach“. Und schließlich stirbt Susn als greise, grantige Frau, von Hobmeier ebenso brillant gespielt wie eingangs das junge Mädchen, das in ihrer Schilderung vom Hund Fips und in Fett gebackenen Knödeln und von Apfelkompott auch ein widerwilliges Heimatgefühl erwachen lässt.

Mit den Stücken nach Hans Fallada und von Herbert Achternbusch spannt Baumbauer an diesem Wochenende den Bogen weit, von der Hauptstadt bis in die tiefste bayerische Dorflandschaft, von vergangenen Wirtschaftskrisen bis zur Gegenwart. Mit den Regisseuren Luk Perceval und Thomas Ostermeier zeigt er dagegen Kontinuität: Bereits im März 2003 eröffnete Baumbauer, Intendant seit 2001, das Jugendstilhaus nach dreijähriger Renovierung durch Percevals „Othello“. Mit Achternbusch knüpft er an das Sprechtheater seines Vorgängers Dieter Dorn an – jetzt allerdings progressiv, neu und kraftvoll umgesetzt von Ostermeier, der ebenso zu Baumbauers Truppe gehört wie der 64-jährige Johan Simons. Der wird ab der nächsten Spielzeit der Nachfolger des um nur ein Jahr älteren Baumbauer.

Was Baumbauer ihm hinterlässt? Besonders auf der Bühne des Werkraums konstruierte er über Jahre hinweg mit Regisseuren wie etwa Schorsch Kamerun eine „experimentierfreudige B-Seite“ des Theaters, lud DJs und Poetryslammer ins Jugendstilhaus, zog 2004 unter dem Titel „Bunnyhill“ in unterschiedliche städtische Milieus und überschrieb seine Spielzeiten mit exklamativen Motti wie „Fürchtet euch nicht“ oder „Geschieht dir recht“. Wenn auch Schlagzeilen über Abonnentenrückgänge seine ersten Jahre begleiteten, so band er bald ein neues, junges Publikum an sein Theater. Die Regisseure, denen er Raum gab, sich zu entwickeln, begleitete er nicht selten über Jahre. Diese Unbeirrbarkeit ist sein bestes Erbe.