Schiffbruch eines Giganten

Papiermühlen hier, Übersetzungsstreitigkeiten dort: Herman Melville ist neu zu entdecken. Eben sind Daniel Göskes ungewöhnliche Lebensbeschreibung des Autors sowie Friedhelm Rathjens „Moby Dick“-Übersetzung erschienen

„Wozu etwas kunstvoll ausarbeiten, was nach seinem ganzen Wesen so kurzlebig ist wie ein modernes Buch?“

VON THOMAS STÖLZEL

„Ich will Ihnen sagen, was ich tun würde, wenn es nur Magier gäbe auf dieser Welt. Ich würde mir am einen Ende des Hauses eine Papiermühle einrichten, so daß ein endloser Streifen Foliopapier über den Schreibtisch dahinwogen würde; und auf diesen endlosen Streifen würde ich tausend – eine Million – Milliarden von Gedanken schreiben, alle in Form eines Briefes an Sie.“

Diese Sätze, die Herman Melville an seinen Kollegen Nathaniel Hawthorne schrieb, lassen sich nicht zuletzt als Ausdruck einer Schreibbesessenheit verstehen, dank deren Melville in einer manischen Phase von rund einem Dutzend Jahren neun zum Teil ausladende Romane und eine Reihe meisterhafter Erzählungen hervorbrachte. Dennoch blieb Melville – aus heutiger Sicht einer der größten amerikanischen Autoren aller Zeiten – den meisten seiner zeitgenössischen Leser fremd, ja unbegreiflich. Und sein Leben wirft trotz zahlreicher Biografien auch heute noch vielerlei Rätsel auf.

1819 als Spross schottischer und holländischer Vorfahren in New York geboren, verliert er früh den Vater, muss von der Schule abgehen und für den Unterhalt der großen Familie sorgen. Bis zu seinem Tod wird sein autodidaktischer Eifer nicht erlahmen, sich die ihm vorenthaltene Bildung selbst anzueignen. Da er an Land keinen ergiebigen Brotberuf findet, mustert er zwanzigjährig zunächst bei einem Kauffahrer an, wechselt dann auf einen Walfänger, desertiert, verbringt einige Zeit in der Südsee und kehrt auf einer Fregatte der Kriegsmarine in die USA zurück. In den fünf Jahren, die Melville auf verschiedenen Schiffen und Meeren verbringt, sammelt er den Rohstoff für einige seiner bekanntesten Bücher, benutzt – wie Joseph Conrad nach ihm – eifrig die Schiffsbibliotheken und übt sich, zunächst vor allem mündlich, in der Kunst des Erzählens.

Als Autor hat er nach seiner Rückkehr mit seinen beiden ersten Büchern „Typee“ und „Omoo“ – romanhaften Schilderungen seiner Südseeerlebnisse voller exotischer und ethnologischer Details – einigen Erfolg; wenngleich die prüde amerikanische Öffentlichkeit an erotischen Szenen und realistischer Missionarskritik Anstoß nimmt und Melville seine Texte mehrfach „reinigen“ muss. Mit seinem dritten Buch, dem groß angelegten Romanfresko „Mardi“, beginnt er sich allmählich ins literarische Abseits zu schreiben. Insbesondere seine amerikanische Leserschaft fühlt sich von der Komplexität und Reflexionsdichte seiner Prosa überfordert. Schließlich gibt Melville nach gut zwölf Jahren intensivster Tätigkeit auf: Der Autorenberuf trug ihm zumeist nur Unverständnis oder Ablehnung ein. In einem Brief stellt er dem Adressaten und sich die Frage: „Wozu etwas kunstvoll ausarbeiten, was nach seinem ganzen Wesen so kurzlebig ist wie ein modernes Buch? Hätte ich in diesem Jahrhundert die Evangelien geschrieben, so würde ich doch in der Gosse sterben.“

Das ist nicht geschehen. Denn anders als mit seinen Büchern hat Melville mit seiner Frau und seinem Schwiegervater Glück. Diese hält auch in schweren Zeiten zu ihm. Jener ist vermögend genug, die Familie seiner Tochter immer wieder zu unterstützen und seinem nach den Schreibexzessen nervlich und körperlich ziemlich angeschlagenen Schwiegersohn eine längere Erholungsreise nach Europa und an die Levante zu ermöglichen. Dort sammelt Melville dann Material für sein großes philosophisches Erzählgedicht „Clarel“, das er als eine moderne Pilgerfahrt anlegt. Als das vieltausendzeilige Epos 1876 erscheint, ist sein Autor nahezu vergessen. Obwohl er hauptberuflich viele Jahre lang als Zollinspektor im New Yorker Hafen tätig war, hat Melville das Schreiben nie ganz eingestellt. Bis kurz vor seinem Tod 1891 arbeitete er an der später von Benjamin Britten vertonten Novelle „Billy Budd“.

Jetzt könnte durch das unlängst erschienene Buch „Herman Melville: Ein Leben“ neues Licht auf die dunklen Seiten dieser merkwürdigen Existenz fallen. Denn es handelt sich bei diesem Band – dem dritten der schön gestalteten und vorzüglich kommentierten Ausgabe Ausgewählter Werke Herman Melvilles im Carl Hanser Verlag – um eine eher ungewöhnliche Lebensbeschreibung. Sie versammelt chronologisch und in acht Kapiteln angeordnet alle Briefe, Tagebücher und anderen Dokumente, die aus Melvilles Feder überliefert sind. Aber nicht nur das: Der Herausgeber Daniel Göske nimmt durch seine kenntnisreichen Kommentare und Erläuterungen den Leser gewissermaßen bei der Hand und führt ihn so durch dieses ereignisreiche Leben.

Rund ein Drittel der fast 700 Textseiten nehmen die gut gefassten biografisch-historischen Skizzen ein, die Göske zwischen Melvilles Selbstzeugnisse eingefügt hat. Man bekommt es also mit zwei Erzählern zu tun: Der Wechsel zwischen einer autobiografischen Stimme aus dem 19. Jahrhundert und einer kommentierend-erläuternden aus dem 21. Jahrhundert gibt dieser Lebensbeschreibung etwas wohltuend Dialogisches. Das eröffnet anregende Perspektiven und wahrt dadurch im Unterschied zu vielen sonstigen Biografien eine Offenheit, die den Leser einlädt, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Melvilles besonderes Selbstverständnis als Autor findet sich hier unter anderem in den Briefwechseln mit seinen englischen und amerikanischen Verlegern erstmals ausführlich wiedergegeben. Und wenn auch manche Briefe an seine Verwandten in ihrem Detailreichtum und ihren familiären Bezügen mitunter etwas ermüdend sind, so gehört wiederum die Korrespondenz mit Nathaniel Hawthorne, die Melville während der Niederschrift seines berühmtesten Romans „Moby Dick“ führte, neben den Reisetagebüchern zu den Glanzlichtern dieser Ausgabe.

Dass Melville in seinen literarischen Auffassungen und Vorhaben seiner Zeit weit voraus war, lässt sich heute wohl noch am deutlichsten an eben „Moby Dick oder Der Wal“ erkennen, an diesem enorm anspielungsträchtigen, sprachwuchtigen und sprachmächtigen Roman, der von einer wahngesteuerten Waljagd erzählt. 2001 erschien er als erster Band der Ausgewählten Werke einhundertfünfzig Jahre nach dem Original in einer Neuübersetzung, zu der es an dieser Stelle noch einige Anmerkungen zu machen gilt.

Ein wichtiger Anlass, Melvilles Oeuvre in neuen deutschen Fassungen vorzulegen, bestand auch in dem Umstand, dass erst seit jüngerer Zeit die amerikanischen Ausgangstexte in der großen Northwestern-Newberry Edition erstmals vollständig und gesichert vorliegen. Frühere deutsche Melville-Übertragungen – wie etwa die von Mummenday oder Weber – konnten darauf noch nicht zurückgreifen. Anlässlich der Neuübersetzung von „Moby Dick“ ins Deutsche brach ein öffentlich geführter Streit darüber aus, wie man dem Original wohl am adäquatesten gerecht werde. Der Hanser Verlag hatte ursprünglich Friedhelm Rathjen mit der Neuübersetzung beauftragt; Herausgeber und Verlag jedoch lehnten dann Rathjens Fassung, die den schwierigen Versuch unternimmt, den sprachlichen Manieriertheiten des Originals Rechnung zu tragen, ab und engagierten mit Matthias Jendis einen neuen Übersetzer.

Erschienen 2001 im Schreibheft Nr. 57 zumindest Auszüge der Übersetzung von Rathjen, so hat nun im Herbst des vergangenen Jahres der Zweitausendeins Verlag den gesamten Rathjen veröffentlicht. Und er hat noch mehr getan. Die zweite „Moby-Dick“-Neuübersetzung ist ein wohlfeil gestaltetes, beinahe bibliophiles Buch im geprägten Schuber, illustriert mit fast dreihundert ansprechenden Federzeichnungen von Rockwell Kent aus dem Jahr 1930 und versehen mit einem umfangreichen und instruktiven Anhang des Herausgebers Norbert Wehr, in dem wichtige Texte von und über Herman Melville versammelt sind.

Es spricht für das Original, dass zwei ausgewiesene Übersetzer zwei erkennbar unterschiedliche Neufassungen erstellt haben. Wer, um mit Lichtenberg zu reden, also nicht nur zwei, sondern drei oder mehr Paar Hosen besitzt, mache zwei davon zu Geld und schaffe sich die beiden neuen deutschen „Moby Dicks“ an und delektiere sich an den groben wie subtilen Unterschieden.

So steht zu hoffen, dass der deutschsprachige Leser dieser Zeit dank der Neuübertragungen einen leichteren Zugang zu Melvilles Werken finden wird als die meisten seiner zeitgenössischen Landsleute. Melville selbst hat diese Reaktion übrigens nur wenig überrascht. Denn, wie er einem seiner englischen Verleger schrieb: „Unser Land & fast alle seine Angelegenheiten werden von handfesten Hinterwäldlern verwaltet.“ Dies im Übrigen scheint eine Beobachtung zu sein, die sich nicht nur auf die amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts beziehen lässt.

Herman Melville: „Moby Dick oder: Der Wal“. Originalausgabe. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Mit 269 Illustrationen von Rockwell Kent. Hrsg. und mit einem Anhang versehen von Norbert Wehr. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2004, 989 Seiten, 40 €ĽHerman Melville: „Moby Dick“. Aus dem Englischen von Matthias Jendis, Carl Hanser Verlag, München 2001, 1043 Seiten, 34,90 € „Herman Melville: Ein Leben. Briefe und Tagebücher“. Hrsg. von Daniel Göske. Deutsch von Werner Schmitz und Daniel Göske, 885 Seiten. Carl Hanser Verlag, München 2004, 34,90 € „Eine Pilgerfahrt, ein Ding in Versen …“ – „Clarel“, Herman Melvilles Versroman. In: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, 63, hrsg. von Norbert Wehr. Rigodon Verlag, Essen 2004, 10,50 € Außerdem: „Herman Melville. Moby Dick“. Gelesen von Rolf Boysen. Laufzeit 12 Stunden (9 MC) Hörbuch, Deutsche Grammophon, 56 €ĽHerman Melville: „Moby Dick“. Hörspiel. Bearbeitung, Komposition und Regie. Klaus Buhlert. Laufzeit 550 Minuten (10 CD oder 8 MC). Der Hörverlag, München 2002, 49,95 €