Die Gewerkschaften könnten die Reformer des Jahres werden
: Neue Sachlichkeit

Die Gewerkschaft Ver.di ist mächtig stolz auf diese „Jahrhundertreform“, die sie da in Potsdam mit Kommunen und Bund ausgehandelt hat. Jetzt lässt sich zwar darüber streiten, welches Jahrhundert Ver.di-Chef Frank Bsirske angesichts überfälliger Renovierungsarbeiten im öffentlichen Dienst gemeint haben mag. Doch allein der für diesen Tarifvertrag neu besetzte Begriff macht deutlich: Ver.di hat offensichtlich erkannt, dass Reformen nicht nur notwendig, sondern mittlerweile auch attraktiv sind. Und das gilt für alle Gewerkschaften.

Der Begriff „Reform“ – von Kanzler Gerhard Schröder 2003 mit seiner „Agenda 2010“ neu belebt – war einmal ein Unwort. Zumindest für die Gewerkschaften. Gerade Bsirske entpuppte sich als vehementer Gegner von Schröders Reformpolitik. Bsirske hielt sie bereits für „glatt gescheitert“.

Seit Schröders Rede Anfang 2003 sind zwei große Tarifrunden der mächtigsten Einzelgewerkschaften Ver.di und IG Metall vergangen. Und siehe da: Die beiden Gewerkschaften haben auf ihrem ureigenen Terrain der Tarifpolitik einen Pragmatismus, eine neue Sachlichkeit an den Tag gelegt, die den gleichwohl im Herbst 2004 aufgegebenen Protestbemühungen vollkommen entgegensteht.

Drei Beispiele: Die Laufzeiten der Tarifverträge sind immens, 35 Monaten bei Ver.di, 26 Monate bei der IG Metall. Die Gewerkschaften folgen damit dem Argument der Planungssicherheit in Kommunen wie in Betrieben. Es ging nicht um Löhne wie in früheren Konflikten. Die IG Metall forderte zurückhaltende 4 Prozent, Ver.di verzichtete gar ganz auf eine Lohnforderung. Und: Es ging in beiden Fällen um qualitative Tarifpolitik – um flexiblere Arbeitszeiten, Arbeitszeitkorridore und die Möglichkeit von regionalen beziehungsweise betrieblichen Vereinbarungen.

Wer nun die Gewerkschaften weiterhin als Blockierer hinstellen will, der ist noch auf dem Stand von 2003, der unterschätzt den Strategiewechsel. Jetzt fehlt nur noch, dass die Gewerkschaften im nächsten Jahr wieder eine Wahlempfehlung für die SPD aussprechen. Ein Sieg Schröders vorausgesetzt, sind sie dann erster Anwärter auf den Titel „Reformer des Jahres 2006“. THILO KNOTT