piwik no script img

„Zeit für die Ermüdeten!“

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Hier Verwilderung, dort Erschlaffung – wir leben unter unseren Möglichkeiten

Das Entscheidende geschah, wie immer, in der Geisterstunde. Das 24-Stunden-Schiller-Marathon in der Berliner Akademie hatte Halbzeit, Albert Ostermeier die „Kraniche des Ibykus“ aufgesagt, Jule Böwe las gerade die „Großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte“. Auch die Unermüdlichen sehnten sich, nach zwölf Stunden Dauer-Rezitation auf den im Erdgeschoss aufgeschlagenen Feldbetten zu ruhen. Da kam dieser mittelalte Mann die Treppe hoch, in einem angestoßenen feldgrauen Mantel, darunter hellgraue Kniestrümpfe, darüber lange, offene Haare, blond oder grau?

Auf dem Absatz blieb er stehen und blickte auf die Festgemeinde in der Lobby hinunter. Dann begann er vor sich hin zu sprechen, halblaut, hörbar nur, wenn man direkt neben ihm stand: „Das größte Kunstwerk ist die wahre politische Freiheit. Die Bedingungen dafür waren damals nicht gegeben: die Revolution hatte zwar das Gesetz auf den Thron gestellt, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, aber lange noch regierten Fürsten, die das Wort Demokratie mit Gefängnis belegten, die civilisierten Klassen verfielen dem System des Egoism; unten rebellierte gelegentlich eine rohe, tierähnliche, niedere und zahlreiche Klasse. Das alles ist heute anders. Was heute dem Ideal der Gleichheit im Wege steht, sind nicht Despotie und Armut, sondern derselbe Mechanismus, der uns von ihnen befreit hat: Der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten wurden auseinander gerissen; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, entfalten ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen. Die Oberen erschöpfen sich in leerer Subtilität, die Theoretiker haben gar oft ein kaltes Herz, weil sie die Eindrücke zergliedern, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren, und die Geschäftsleute gar oft ein enges Herz. Kurz: Arbeitsteilung und Kapital haben die Produktivität gesteigert, und dieses kunstreiche Uhrwerk ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument. Solange der Antagonismus der Kräfte andauert, ist man erst auf dem Weg zu dieser.

Auf dem Treppenabsatz beglückwünschten sich zwei Kulturträger zu dieser gelungenen Veranstaltung, unten verließ ein Schub Zuschauer die Akademie, auf den Monitoren wurde eine Szene aus „Maria Stuart“ gelesen. Der Mann im grauen Mantel legte die Hände auf das Geländer, wie auf ein Rednerpult. „Aber es geht nicht an“, redete er weiter, halblaut, nach unten, „dass wir ganze Generationen als Knechte der Menschheit opfern, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Staat der Freien kann nur von befreiten Menschen errichtet werden. Sonst haben wir am Ende eine Gesellschaft, die unter gutem Leben grenzenloses Dasein und Wohlsein, bloß um des Daseins und Wohlseins willen, eine ins Absolute strebende Tierheit.

Es wurde eng auf der Treppe. Ein Unternehmer war zu den zwei Kulturträgern getreten und gratulierte ihnen zu der gelungenen Veranstaltung. Der Mann im Mantel nickte vor sich hin und fuhr fort: „Die Kunst ist die Utopie, die immer schon stattfindet. Deshalb muss der Staat die ästhetische Erziehung seiner Bürger fördern. Im ästhetischen Staat – im Kunstgenuss, im Spiel der Einbildungskraft, in der Entwicklung des Möglichkeitssinns – können wir den Wunden der Arbeitsteilung und der Unvollkommenheit der Politik entkommen. Das Reich der materiellen Notwendigkeit wird nie enden, aber neben ihm wächst das Reich der Freiheit …“

Er hatte etwas lauter gesprochen. Einer der Kulturträger musterte ihn kurz, und warf ihm ein knappes „ach ja, die schönen alten Töne“ zu. Es war wohl eine Spur zu ironisch. Der Mann im Mantel drehte sich um. „Allerdings, meine Herren“, er verbeugte sich förmlich, „allerdings. Sie müssten es doch wissen. Die deutsche Sozialdemokratie ist doch anderthalb Jahrhunderte diesem Programm der Kulturgesellschaft gefolgt. In ihren Lesezirkeln, Volkshochschulen, in ihrer Vortrags- und Festkultur hat sie unser idealistisches Ideal erkämpft. Stunde um Stunde – denn die Bedingung für die Kulturgesellschaft ist die Verkürzung des Arbeitstages.“ Beiläufiges Nicken, dann wandte sich die kleine Runde wieder einem der Monitore zu.

„Unser Wohlstand ist ins Fantastische gestiegen“, fuhr der Mann im Mantel fort und schüttelte seine blonde Mähne, „und jetzt formt die Industrie noch unseren Spieltrieb und unsere Seelen mit kurzfristigen Erregungen. Und die Kunst?“ Er war wieder ans Geländer getreten und rief die letzten Worte in die Halle hinunter, aber niemand blickte hoch, weil kein Mikrofon ihn verstärkte. Auf den Monitoren las jemand die „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“. Der Mann hörte kurz hin, dann murmelte er: „Das Sublime und das Grelle, das Gekochte und das Rohe, das Komplizierte und das Naive – es ist alles eins geworden, und das nennen sie Demokratisierung des Kunsterlebnisses. Rasen durch Jahrhundert-Ausstellungen, bestellen sich die hundert größten Musikstücke, die hundert besten Bücher, die fünfzig legendärsten Filme online – aber haben keine Zeit, sich erschüttern zu lassen.“

Er stand nun allein auf dem Treppenabsatz, steigerte sich in Tempo und Lautstärke, die Vorbeigehenden grinsten kurz und strebten der „Räuber“-Performance oder dem Ausgang zu. „Wir werden immer produktiver“, rief der Mann, und hielt einzelne der Vorbeigehenden am Ärmel fest, „aber was seit Aristoteles der Sinn davon war, haben wir vergessen: die Befreiung von der Geist und Seele beschädigenden Arbeit. Vier Stunden am Tag sollten ausreichen für alles Lebensnotwendige, schrieb der Mönch Campanella, sechs Stunden, meinte der große Bacon, drei Stunden würden reichen, schrieb John Maynard Keynes, und immerhin sechs Stunden pro Tag – 30 in der Woche – fordern die Sozialdemokraten in ihrem immer noch gültigen Parteiprogramm. Zeit!“ Und noch einmal rief er es von seiner erhöhten Position in die Halle: „Zeit! Zeit für die durch den Kampf mit der Not Ermüdeten. Zeit zu gewinnen, das war doch der ganze Sinn der Produktionsschlachten. Zweihundert Jahre Fortschritt, und am Ende ein doppelter Pöbel. Hier Verwilderung, dort Erschlaffung. Wir leben unter unseren Möglichkeiten.“ Und noch einmal rief er: „Zeit für die Ermüdeten!

Es geht nicht an, dass wir ganze Generationen als Knechte der Menschheit opfern

Zwei junge Männer in gedeckten Anzügen kamen die Treppe hoch, redeten auf ihn ein, zwei, drei Minuten lang, dann nickte er, etwas abwesend, wie es schien, und ging ungeleitet zum Ausgang. „Was war das denn“, fragte eine Besucherin auf dem Treppenabsatz. Einer der jungen Männer zuckte die Schultern: „Einer von den Schauspielern vielleicht, die haben ja alle nach ihrem Auftritt in der VIP-Lounge noch getrunken. Auf jeden Fall hatte er keine Eintrittskarte …“

(Die kursiven Zitate stammen aus Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen