Wie Statisten der eigenen Neuanfänge

LITERATUR Robert Bober erzählt von Sehnsuchtsorten und Dreiecksaffären im Pariser Stadtteil Belville der frühen sechziger Jahre: „Wer einmal die Augen öffnet …“

Ganz nebenbei ein spätes Making-of jener Filmwelt, die uns Tati und Godard in die WG-Küchen trugen

VON FRITZ VON KLINGGRÄFF

Die Geschichte des jungen Bernard Appelbaum aus dem Pariser Nordosten kommt von weit her. „Diejenigen, die mit ihren kompletten Familien aus Italien, Polen, Armenien oder Russland kamen, hatten ihr Land zwar in Richtung Frankreich verlassen, aber es war Belleville, das sie aufnahm.“ Geboren 1940 als Kind jüdischer Emigranten aus Polen und aufgewachsen an der Place de la République, lebt der 21-Jährige sein Leben im Paris des kulturellen Aufbruchs in den fünfziger Jahren. Nicht der Montparnasse Sartres und der Intellektuellenschickeria im La Coupole prägen seine Jugend, sondern Belleville, jene Mischpoke von osteuropäischen Migranten – Schneider und Schuster, wie sein Stiefvater Leizer und sein Vater Yankel es waren.

Das klingt nach viel Paris-Nostalgie fürs Lesergemüt – und genauso lässt sich dieser dritte Roman von Robert Bober auch lesen: Paris-Atmo bis zum Abwinken, ein spätes Making-of jener Filmwelt, die uns Regisseure wie Jacques Tati, Jean-Luc Godard in die WG-Küchen trugen; dazu die Fotos von Robert Doisneau. Wie zum Spott setzt der schlanke Entwicklungsroman um Bernard Appelbaum in dieser Bilderwelt ein: mit einem kleinen Job für den jungen Flaneur, von dem man sonst bis zum Ende des Romans nur selten erfährt, wovon er sein Leben fristet.

„Dank Robert“ – so die ersten zwei Worte des Romans – dank Robert, seinem einstigen Betreuer in der Ferienkolonie, darf Bernard Appelbaum eine kleine Statistenrolle in Francois Truffauts „Jules und Jim“ spielen.

Dieser väterliche Freund „Robert“ ist Assistent Truffauts und zugleich das Alter Ego des Autors Robert Bober, geboren 1931 als Staatenloser in Deutschland, 1933 mit den Eltern, polnischen Juden aus Przytyk, weiter nach Paris geflohen, wo sie (wie auch Bernards Familie) untertauchen: ein jüdischer Holocaustüberlebender im offenen Raum zwischen zwei Generationen, erst Schneider und Töpfer, später Assistent Truffauts (sic), in den siebziger Jahren Dokumentarfilmer des literarischen 20. Jahrhunderts in Paris.

Als Sechzigjähriger beginnt er mit dem Schreiben, Altmännerliteratur, erfahrungs- und geschichtengesättigt, mit Freude an der guten Botschaft im Bösen. Doch während der Leser sich noch amüsiert über diesen frühen „Dank“ des Romans an seinen Autor Robert, taumelt Bernard Appelbaum auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Bars und Straßen, über die Flohmärkte und Plätze der französischen Hauptstadt hinein in eine Literatur- und Liebesgeschichte, die ihn vor allem den Weg in die eigene Familiengeschichte weist.

Vis-à-vis „Nadines Bistro“ beginnt diese Reise mit Robert: mit einem Panoramablick über Paris und zwei neuen Wohnblöcken vor den Treppenstufen der Rue Vilin. Und schon ist man noch tiefer in Bobers Zitat und Selbstzitat der Pariser Kulturgeschichte verstrickt. Denn dieser nördliche Teil der Rue Vilin ist heute städtebaulich längst überformt und erhalten nur noch im Bericht Georges Perecs, des Schriftstellers, der hier in der Nummer 24 seine ersten Kindheitsjahre verbrachte.

Robert Bober hat seinem Freund und der Straße einen Dokumentarfilm gewidmet – „En remontant La Rue Vilin“. Und nun stehen Bernard und Robert an gleicher Stelle und erzählen sich Geschichten aus alter Zeit – von Fresken und Gassenhauern, die noch weiter zurück in die Hauptstadt des 19. Jahrhundertsführen: „Les gars d’Ménilmontant / Sont toujours remontant“ („Die Jungs von Ménilmontant / bringen einen immer wieder hoch“). Lauter Requisiten und Schauplätze für Truffauts nächsten Paris-Film und seinen Assistenten Robert. Doch bevor sich der Leser allzu tief in die Nostalgie der verblühenden Hauptstadt Europas hineinziehen lässt, wird er in dem fast leichtfertig leichten Erzählton Bobers zurück in die Gegenwart Bernard Appelbaums geholt – nun wirklich mitten hinein in die Dreharbeiten für François Truffauts „Jules und Jim“.

Man kennt diese von Henri Pierre Roché erfahrene und aufgeschriebene Geschichte der Liebe von Catherine (Jeanne Moreau) zu ihm, dem Franzosen „Jim“, und seinem Freund, ihrem deutschen Ehemann „Jules“. (Auch Stéphane Hessel erinnert gern an diese Zeit der sanften Libertinage, die er als Sohn von Helen Grund und des Berliner Schriftstellers Franz Hessel mit deren gemeinsamen Freund Roché kindlich genoss und in der er den Ursprung für seine heutige Weltoffenheit sieht.)

Im sich öffnenden Raum dieser Dreharbeiten zu „Jules und Jim“ – taggenau datiert auf den 3. Mai 1961 – entwickelt Robert Bober die Lebensgeschichte des jungen Bernard Applebaum zurück in die eigene Familiengeschichte. Die kleine Intrige, die Robert als Truffaut-Assistenz spinnt, lässt er dafür elegant ins Off laufen. Denn auch Robert wollte gern Autor und Schicksal spielen und stellte deshalb dem jungen Bernard seine Jugendfreundin Laura bei Klappe 38 H zur Seite. Als Statistenpaar sollten sie sich die Hände halten und küssen, wenn Jim (Henri Serre) in der Bar „Chez Victor“ an ihnen vorbeigeht. Drei Klappen, drei Küsse: Doch Roberts kleine Kuppelei misslingt und aus der sich anbahnenden Kleinfamilie wird nichts. Laura gibt Bernard einen zarten Korb und am Ende landet die ganze Szene in Truffauts Schnittmüll. Neun Monate später aber gesteht Bernards Mutter unter dem Eindruck des Films ihre eigene polnische Dreiecksaffäre mit ihrem ersten Mann Yankel und seinem Freund Leizer, den sie nach der Ermordung Yankels in Auschwitz heiraten wird.

Damit wird aus einer kulturtouristischen Paris-Topografie plötzlich die kleine Geschichte einer Doppelfamilie, die ihren Ursprung in den jüdischen Lebenswelten der zwanziger Jahre hat. Eine europäische Liebesgeschichte zwischen Polen, Deutschland und Frankreich zwischen polnischem Antisemitismus und aufkommendem Nazismus und in seiner Erzählhaltung doch unendlich weit weg von jenen totalen Weltgeschichten des 20. Jahrhunderts, die Bobers Pariser Nachbar Jorge Semprún zeitgleich und bis zuletzt erzählte. Die Anekdoten aus dem Leben der Familie Appelbaum-Zygelmann tragen das Mal dieses Europa, ohne es zur Schau zu stellen. Wenn Alex seinen Namen in immer wieder neuer Kombinatorik ins Telefon schnaubt – mit dem „Z wie Zygoto neben dem Y von Yoghurt und dem G von Granatapfelsirup“ –, so taucht im Schatten dieser mnemotechnischen Serialität eher wieder der Schriftstellerfreund Georges Perec auf und treibt sein willkürliches Zufallsspiel mit den Menschen und Dingen. Und selbst Bernards „Glücksfunde der Woche“ – Rasiermesser, Hotelaschenbecher und amputierte Puppe – verweigern sich in ihrer Oberflächen-Archäologie jeder Alltagsmagie, Teleologie oder Vernetzung. Sie sprechen nicht. Nicht einmal mehr von sich selbst.

Gleichwohl bleibt Bobers Familie Appelbaum ein Sehnsuchtsort. Er spiegelt sich in der Verlassenheit Lauras, der Holocaust-Waisen aus den Kinderheimen der Nachkriegszeit, die ihrer Puppe Falten auf die Stirn malt, um sich auf diese Weise in die Arme einer Mutter schmiegen zu können. Vor dieser Negativfolie war Bobers Belleville der sechziger Jahre ein Glücksfund für zahllose Familien aus Osteuropa, denen es das Versprechen eines Neuanfangs schenkte. Aufgehoben ist es in der kleinen Anekdote vom jüdischen Schneider polnischer Herkunft, der seine Tochter – nun schon Gymnasiallehrerin für Französisch – fragt: „Hast du ‚Der Totschläger‘ von Zola gelesen?“ „Ja, natürlich“, antwortet diese. „Aber hast du es auf Jiddisch gelesen?“ – „Nein …“ – „Das war ein Fehler. Auf Jiddisch muss man das lesen!“

Eine schöne Geschichte, aber keine glückliche. Denn in ihrem Echoraum lauert jene andere von den Massenverhaftungen am Velodrôme d’Hiver, als am 16. und 17. Juli 1942 durch die deutsche SS und die französische Gendarmerie zehntausend Pariser Juden deportiert wurden.

Am Ufer der Seine unweit des Eiffelturms steht dafür heute ein kleines Denkmal, errichtet 1994 vom Pariser Künstler Walter Spitzer aus Cieszyn. Ein Jahr nach seiner Fertigstellung wird Jacques Chirac hier mit seiner Rede vom 16. Juli 1995 eine neue Epoche im offiziellen Erinnerungsdiskurs Frankreichs einläuten: „Frankreich, Vaterland der Aufklärung und der Menschenrechte, Boden eines freundlichen Empfangs und Asyls, vollbrachte an diesem Tag etwas Unwiderrufliches: Unser Land lieferte entgegen seinen Versprechungen seine Schutzbefohlenen ihren Henkern aus.“ Bernard Appelbaums kleiner Entwicklungsroman probiert hier ein kleines Verzeihen.

Robert Bober: „Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen“. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Verlag Antje Kunstmann, München 2011. 255 Seiten, 19,90 Euro