„Bush wurde nicht gewählt“

INTERVIEW ERIC CHAUVISTRÉ

taz: Professor Chomsky, vor zwei Jahren rückten die US-Truppen in Bagdad ein. Mittlerweile haben im Irak Wahlen stattgefunden. Sollte Präsident George W. Bush mit seiner Strategie der militärischen Demokratisierung Iraks doch recht behalten haben?

Noam Chomsky: Die Verbreitung von Demokratie war nicht die Begründung für die Invasion. Irak wurde, wie es immer wieder Bush, Condoleezza Rice, Colin Powell und andere betonten, aus einem einzigen Grund angegriffen: Das Land sollte die Produktion von Massenvernichtungswaffen beenden. Erst als diese Begründung verschwand, wurde ein neues Ziel erfunden: Jetzt sollte dem Irak die Demokratie gebracht werden. Und gut erzogene westliche Intellektuelle vergaßen, dass die Leute, die ihnen diese neue Begründung lieferten, auch die größten Lügner der Geschichte sind.

Das mag sein. Dennoch hat die Invasion dem Irak die Demokratie gebracht.

Nein, hat sie nicht. Großbritannien und die Vereinigten Staaten haben auf jedem möglichen Weg versucht, Wahlen im Irak zu verhindern. Zunächst verordneten sie dem Land ein Auswahlsystem, mit dem sie die Zusammensetzung der Regierung hätten kontrollieren können. Dann schrieben sie ihren eigenen Verfassungsentwurf. Durch gewaltfreien Widerstand wurden sie Schritt für Schritt dazu gezwungen, Eingeständnisse zu machen. Das ist ein immenser Erfolg für einen gewaltfreien Widerstand.

Gewaltfreier Widerstand? Ich höre nur von Gewalt im Irak.

Die Gewalt interessiert sie nicht: Auf diesem Terrain haben die USA und Großbritannien eine überwältigende Übermacht. Sie können Falludscha in ein Grosny verwandeln. Und sie können dabei darauf vertrauen, dass westliche Intellektuelle dem keine Aufmerksamkeit schenken. Sie können massive Kriegsverbrechen begehen – und es wird akzeptiert von den westlichen Eliten. Womit sie aber nicht umgehen können, ist der gewaltfreie Widerstand, der darin besteht, die Befehle der Besatzer nicht zu akzeptieren.

Sie behaupten, es hätte keine Wahlen gegeben ohne das, was sie als gewaltfreien Widerstand bezeichnen?

Wir wissen das. Die Frage stellt sich gar nicht. Die britischen und amerikanischen Behörden setzten eine Reihe von Maßnahmen durch, die Wahlen verhindern sollten. Das war die Idee hinter dem zunächst geplanten Auswahlsystem. Aber die USA und Großbritannien mussten nicht nur mit Blick auf die von ihnen zuvor abgelehnten Wahlen zurückstecken, sondern auch bei den völlig illegalen Gesetzen der US-Zivilverwaltung, mit denen die irakische Wirtschaft für eine komplette ausländische Übernahme geöffnet werden sollte. Und es ist denkbar, dass sie sogar bei ihrem vorrangigen Ziel, der Aufrechterhaltung einer permanenten militärischen Präsenz, einlenken müssen.

Das Ergebnis der Wahlen haben die USA und Großbritannien zumindest akzeptiert.

Die Leute im Irak haben für einen Abzugsplan gestimmt: Jede politische Partei im Irak war mit dem Versprechen eines Zeitplans für den Abzug in den Wahlkampf gezogen. Aber Washington und London kündigten gleich nach den Wahlen an, dies nicht mal in Erwägung zu ziehen.

Dennoch. Die Wahlen hätten nicht stattgefunden, wären die USA zuvor nicht in den Irak einmarschiert.

Das ist eine merkwürdige Art, die Lage darzustellen. Hätten die USA und Großbritannien die Iraker nicht daran gehindert, ihre eigene Regierung zu stürzen, wäre das Problem nie aufgetaucht.

Sie sprechen von der Zeit nach dem Krieg um Kuwait 1991?

1991 steht dies außer Frage. Nach dem Golfkrieg gab es eine schiitische Rebellion, die Saddam gestürzt hätte. Doch die USA erlaubten es Saddam, die Rebellion niederzuwerfen. Es gab einen Konsens, dass Saddam größere Stabilität in der Region schafft als die, die ihn stürzen wollten. Dann kam das Sanktionsregime. Hunderttausende wurden dadurch getötet, die Gesellschaft zerstört und der Tyrann gestärkt, weil sich die Bevölkerung auf Saddam stützen musste. Dies hielt die Leute davon ab, Saddam Hussein das gleiche Schicksal zukommen zu lassen wie all den anderen von den USA unterstützten Monstern.

Ohne die Sanktionen wäre Saddam Hussein nicht an der Macht geblieben?

Selbst die vom Leiter der US-Waffeninspektoren im Irak, David Kay im Auftrag der US-Regierung nach dem Krieg geleitete Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die irakische Regierung nur lose zusammengehalten wurde und einfach hätte gestürzt werden können, wäre sie nicht durch die Sanktionen an der Macht gehalten worden.

Bush und Cheney argumentieren, dass es nicht nur um den Irak geht. Als Folge der Invasion könnten wir auch in anderen arabischen Ländern Anzeichen für eine Demokratisierung sehen.

Natürlich können sie das sagen. Und westliche Intellektuelle können dies auch nachreden. Aber die Fakten liegen völlig anders. Die Demokratisierungsbewegungen in der arabischen Welt gibt es seit Jahren. Sie wurden von Großbritannien und den USA blockiert. Das wichtigste Instrument zur Verbreitung von Demokratie und Reform in der arabischen Welt ist al-Dschasira. Das ist der Grund, warum der Sender von den Vereinigten Staaten so gehasst wird. Die USA wollten den Emir von Katar davon überzeugen, den Sender zu schließen. Als ihnen das nicht gelang, bombardierten sie die Stationen des Senders in Afghanistan und im Irak. Und schließlich haben die USA al-Dschasira aus dem Irak rausgeworfen.

Im Libanon sehen wir möglicherweise ein Beispiel für die Verbreitung von Demokratie.

Wenn sich die USA dies auf ihre Fahne schreiben wollen, müssten sie eigentlich angeben, dass die CIA die Bombe gezündet hat, die Expremier Rafik Hariri tötete. Andernfalls ist nicht ersichtlich, wie die USA sich mit der Bewegung im Libanon schmücken könnten.

Bush würde sagen, es war das irakische Vorbild, das die Menschen in Beirut dazu bewegte, auf die Straße zu gehen.

War es das irakische Beispiel, dass die Bombe hoch gehen ließ? Man muss schon ein sehr treuer Stalinist sein, um all das zu akzeptieren.

Bleiben wir bei Wahlen. Bis zum November 2004 konnte man noch sagen, dass Bush nicht ordentlich gewählt worden war. Doch nun hat Bush eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen bekommen, und die Beteiligung war relativ hoch.

Bush wurde nicht gewählt. Weil es keine Wahlen gab. Eine Wahl erfordert die Teilnahme einer informierten Öffentlichkeit in einem politischen Prozess. Was wir in den USA sehen, hat eindeutig nichts mit der Einbeziehung einer informierten Öffentlichkeit in eine politischen Prozess zu tun.

Es gab einen mit viel Aufwand betriebenen öffentlichen Wahlkampf.

Wenn sie sich einen Werbesport im Fernsehen ansehen, erwarten sie nicht, informiert zu werden. Sie erwarten, irregeführt zu werden. Das ist die Idee von Werbung. Wenn diesen Werbeleuten die Aufgabe gestellt wird, statt Produkte Kandidaten zu verkaufen, machen sie dasselbe: Bush wird nicht als das dargestellt, was er ist. Und die Politik der Kandidaten kennt niemand.

Wäre es nicht die Aufgabe der Linken, mit dieser Propaganda besser zurecht zu kommen?

Es geht um mehr als Propaganda. Es gibt viele andere Mittel, um die Leute zu isolieren und sicherzustellen, dass sie politisch nicht partizipieren. Die USA sind anderen Ländern hier ein wenig voraus, aber andernorts ist es ähnlich. In den letzten 25 Jahren sind die Reallöhne für die Mehrheit der US-Bevölkerung nicht angestiegen oder sogar gesunken. Die Leute sichern ihr Einkommen nur dadurch, dass sie viel mehr Stunden arbeiten. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat also eine enorm hohe Arbeitsbelastung und wird zudem mittels massiver Propaganda zum Konsum und in die Verschuldung getrieben. All dies dient der Disziplinierung.

Professor Chomsky, lassen Sie mich versuchen, Ihren politischen Ansatz auf den Punkt zu bringen: Wenn die Leute nur Bescheid wüssten, würde alles das nicht passieren.

Ja, ich bin davon überzeugt: Wüssten die Leute von all diesen Dinge, sie würden es nicht zulassen. Hier stimme ich übrigens völlig mit denjenigen überein, die in der Wirtschaftswelt und in den Regierungen an der Macht sind. Das ist der Zweck der Propaganda. Darin sehen auch die Intellektuellen ihre Aufgabe. Jedes Machtsystem ist darauf ausgerichtet, zu verwirren – egal ob es um die Industrie, die Regierung oder auch um die intellektuellen Communities geht. Wenn die Leute die Wahrheit wüssten, würden diese Machtsysteme nicht mehr funktionieren.

Vor einem Jahr bezeichneten Sie sich im Gespräch mit der taz als Optimist. Gilt das trotz alledem noch?

Sehen Sie sich die Geschichte des Westens an. Es gibt Zyklen. Es gibt Perioden, wenn die Gesellschaft in die Passivität gedrängt wird. Und es gibt Aufstände, die dies verändern. Die 50er-Jahre waren eine Periode extremer Bewegungslosigkeit und Passivität. Auch damals gab es eine Euphorie über das Ende der Geschichte. Alle Probleme schienen gelöst. Alle sollten ruhig und glücklich sein, während ein paar reiche Leute die Welt regieren. Doch in den 60er-Jahren ist dann alles auseinander geflogen – mit einem starken zivilisierenden und demokratisierenden Effekt.

Das ist lange her.

Seit dem 19. Jahrhundert hat es immer wieder Phasen von Triumphalismus gegeben – gefolgt von Revolten, Widerstand, Demokratisierung, größerer Freiheit und Gerechtigkeit. Es ist zu unserer Lebenszeit passiert. Und es wird wieder passieren.