: Als sie den Polizisten verbrannten
URTEILE Nirgends werden so viele Menschen gelyncht wie in Guatemala. Daran ist traditionelles Maya-Recht schuld, behaupten wohlhabende Weiße. Der Lynchmord an Pedro Rodríguez Tomá zeigt die wahren Ursachen
■ Der Putsch: 1954 stürzte der US-Geheimdienst CIA gemeinsam mit Teilen der Armee die Regierung unter Präsident Jacobo Arbenz. Anlass war eine Landreform, die auch vor den Plantagen US-amerikanischer Fruchtkonzerne nicht haltmachte. Seit diesem Putsch regierten in Guatemala die Militärs.
■ Der Bürgerkrieg: In den Jahren 1960 bis 1996 erhob sich die aus der städtischen intellektuellen Mittelschicht entstandene Guerilla namens URNG gegen die Militärdiktatur. Die Militärs reagierten vor allem in den 80er-Jahren mit einer Politik der verbrannten Erde. Im Operationsgebiet der URNG zerstörte die Armee über 400 Maya-Dörfer und tötete etwa 200.000 Menschen. Mehr als 90 Prozent der Opfer waren Maya.
■ Die Kriminalität: Guatemala gehört mit einer Mordrate von jährlich 48 Menschen pro 100.000 Einwohner zu den gewalttätigsten Ländern der Welt. Die Ursachen: Jugendkriminalität, Kämpfe zwischen Drogenkartellen. Zwei Prozent der Ermordeten werden Opfer von Lynchjustiz. Nur bei knapp zwei Prozent der Verbrechen wird ein Täter ermittelt und verurteilt.
■ Der Fotograf: Jon Lowenstein, für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet, versucht, die tödliche Gewalt in Bilder zu fassen, von denen wir auf diesen Seiten drei zeigen.
VON TONI KEPPELER UND CECIBEL ROMERO
Es geschah am 1. November 2009, dem Tag vor Allerseelen, einem sonnigen, wolkenlosen Sonntag.
Das Städtchen San Juan Cotzal ist eine Idylle, fast schon kitschig. Es liegt am Fuß der Bergkette Los Cuchumatanes im satten Grün des Hochlands, 270 Kilometer nördlich von Guatemala-Stadt. Bunt gestrichene Häuschen mit roten Ziegeldächern in engen, gepflasterten Gassen. In der Mitte ein Platz mit Blumenrabatten vor einer weiß getünchten Kirche. An Festtagen tragen die Männer die Tracht der Ixil, eines Zweigs der Maya: weißer Sombrero aus Palmstroh, weißes Hemd unter der Jacke. Man könnte hier, ohne dass viel am Stadtbild verändert werden müsste, einen mexikanischen Western drehen.
Und da ist noch etwas in San Juan Cotzal, das zum Genre des Western passt: In diesem Städtchen wurde gelyncht, noch in jüngster Zeit, wie in so vielen Städten und Dörfern Guatemalas. Vor allem hier oben im überwiegend von Maya besiedelten Nordwesten.
Fälle kollektiver Selbstjustiz an Schuldigen und Unschuldigen haben seit dem Ende des Bürgerkriegs stark zugenommen. Im Jahr 1996, als die rechte Regierung und die linke Guerilla nach 36 Jahren des Gemetzels einen Friedensvertrag unterzeichneten, wurden dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zufolge in Guatemala knapp 50 Menschen Opfer von Lynchjustiz. Im Jahr 2000 waren es schon über 100, im vergangenen Jahr fast 300.
Unter all diesen Fällen ist der Lynchmord von San Juan Cotzal ein besonderer. Nicht etwa, weil das Opfer ein Unschuldiger war, sogar ein Polizist in Uniform. So etwas kommt bisweilen vor. Es ist der derzeit einzige Fall, in dem die Staatsanwaltschaft den mutmaßlichen Anstifter hat verhaften lassen: José Pérez Chen, den Bürgermeister der Stadt.
Diego Sembrano zog sein Mobiltelefon und filmte
An diesem 1. November also hatte der Wind allen Dunst verweht, die Berge am Horizont standen im klaren Licht. Diego Sembrano, der später der wichtigste Zeuge werden würde, kann sich an diesen Tag noch ganz genau erinnern. Er hatte den Morgen damit verbracht, zwei Drachen zu basteln, einen für sich und einen für seinen vierjährigen Neffen Dieguito. Allerseelen ist in Guatemala ein fröhlicher Feiertag: Man geht auf den Friedhof, schmückt die Gräber mit Blumen, isst, trinkt, plaudert, singt und schüttet auch für die Toten einen Schluck Schnaps aufs Grab. Und weil meistens ein Wind geht zu dieser Jahreszeit, lässt man gerne Drachen steigen. Doch Sembrano fehlte der Faden. Er ging ins Zentrum, um welchen zu kaufen.
Dort machten alle Besorgungen für das Fest tags darauf. Vor allem die Blumenverkäufer verdienten gut. Ein Lautsprecherwagen fuhr durch die Straßen und forderte die Leute auf, sich vor dem Rathaus zu versammeln. Sembrano ging hin. Dort drängten sich bestimmt zweihundert Männer und Frauen. Ganz vorne stand Bürgermeister José Pérez Chen, eskortiert von ein paar mit Flinten bewaffneten Männern des „lokalen Sicherheitskomitees“, einer privaten Bürgerwehr, die im Auftrag des Bürgermeisters in San Juan Cotzal für Recht und Ordnung sorgt. Neben Pérez Chen stand Pedro Rodríguez Tomá, Polizist im 15 Minuten entfernten Städtchen Chajul, in Uniform und mit aufgeschwollenem, blutig geschlagenen Gesicht. Rodríguez Tomá sei ein Verbrecher, sagte der Bürgermeister. Man werde ihm jetzt „Maya-Gerechtigkeit“ widerfahren lassen. Sembrano sieht den Moment noch vor sich. Er ahnte Grausiges, zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und filmte.
Diego Sembrano ist ein ruhiger und überlegter Mann. Am Tag nach diesem Vorfall wurde er 32 Jahre alt. Er ist Maya, klein und ein bisschen gedrungen, mit Mandelaugen und diesem fast olivgrünen, dunklen Teint. Sein kurz geschorenes Haar ist rabenschwarz und störrisch. Meist trägt er eine Baseballmütze darüber. Er ist Psychologe und arbeitete damals für ein kleines privates Hilfswerk, das sich um die Aufarbeitung psychosozialer Traumata in Maya-Gemeinden kümmert. Weil die Armee die Indígenas im jahrzehntelangen Bürgerkrieg für Unterstützer der Guerilla hielt, hat sie in ihren Dörfern mehr als 600 Massaker angerichtet.
„Ich habe nicht lange gefilmt“, erzählt Sembrano, „vielleicht eine Minute.“ Aber viele hätten es mitbekommen, auch der Bürgermeister. Der habe dann seine Sicherheitstruppe angewiesen, ihm das Mobiltelefon wegzunehmen. Sembrano steckte es schnell in die Hosentasche. „Aber da kamen sie schon. Sie haben mich heftig verprügelt. Ich ging zu Boden, sie haben mich getreten.“ Ein Mann schlug ihm mit dem Kolben seiner Schrotflinte ins Gesicht. Die rechte Augenbraue platzte auf, Sembrano verlor die Besinnung. „Aber ich kann mich noch genau an das Gesicht dieses Mannes erinnern.“
Freunde haben ihn aus dem Gemenge gezerrt und zur nächsten Krankenstation gebracht. Kurz nachdem Sembrano den Häschern entkommen war, wurde der Polizist Rodríguez Tomá mit Benzin übergossen und angezündet. Er starb auf dem Platz vor der Kirche. Sembrano hat das erst am nächsten Tag erfahren. Das Mobiltelefon konnte er retten. Es liegt heute als Beweismittel bei der Staatsanwaltschaft.
Bürgermeister Pérez Chen hatte schon vorher gerne von „Maya-Justiz“ gesprochen und das, was er darunter versteht, auch angewendet. Als vor fünf Jahren im Städtchen die erste Jugendbande auftauchte, ließ er ihre Mitglieder öffentlich verprügeln. Einmal, Ende 2008, hat er zwanzig Mitglieder der örtlichen Gang halb nackt auf dem Platz vor der Kirche aufstellen lassen. Danach zwang er sie zur Arbeit im Straßenbau – ohne Lohn. „Wir haben beschlossen, sie nach Maya-Recht zu bestrafen, weil unsere Gerichte nichts tun“, brüstete er sich damals vor lokalen Journalisten. „Wir wollen sie ja nicht gleich umbringen; wir zwingen sie nur, vernünftig zu werden, damit sie aufhören, ehrbare Bürger zu belästigen.“
Eigentlich lösen Maya Konflikte ohne Gewalt
Seine Helfer waren immer die Männer vom lokalen Sicherheitskomitee. Sie hätten es geschafft, die Kriminalitätsrate der Gemeinde um 1,5 Prozent zu senken, sagte der Bürgermeister.
Dass überwiegend Maya lynchen, halten die Kommentatoren der guatemaltekischen Presse oft für eine Erklärung für das grausige Töten. Sie schreiben von „kulturellen Mustern“ aus dem „Gewohnheitsrecht der Indígenas“, die solche Akte der Selbstjustiz fördern würden. Die Gewalt und Grausamkeit des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs habe diese Muster verstärkt, Defizite des Staats täten ihr Übriges: Wenn die Polizei unterbesetzt ist und die Gerichte so ineffektiv und korrupt sind, dass nur zwei Prozent aller angezeigten Verbrechen ein rechtskräftiges Urteil zur Folge haben, dürfe man sich nicht wundern, dass Menschen mit solchem kulturellen Hintergrund das Gesetz in die eigene Hand nähmen.
Aus diesen Behauptungen spreche der Rassismus der hellhäutigeren Mittel- und Oberschicht gegen die überwiegend arme indianische Bevölkerungsmehrheit von Guatemala, sagt Eduardo Sacayón: „Ein Grundprinzip der traditionellen Maya-Justiz ist die Gewaltlosigkeit.“ Sacayón ist Sozialpsychologe und Direktor des Instituts für interethnische Studien an der staatlichen San-Carlos-Universität von Guatemala-Stadt. Ziel der traditionellen Maya-Justiz sei es, die durch ein Vergehen gestörte Harmonie in einer Gemeinschaft wieder herzustellen, sagt er. Die Strafen waren ursprünglich rein symbolisch. „Sicher, es wurden dabei Seile eingesetzt. Es gab Fesselungen. Aber ohne Schmerz für den Delinquenten.“ Am Ende soll der Angeklagte bereuen und sich ändern. Nur in gravierenden Fällen, wenn die Wiederherstellung der Harmonie mit dem Delinquenten unmöglich schien, wurde der ausgeschlossen. Er musste das Dorf verlassen.
Sacayón gesteht zu, dass es die „reine Form der Maya-Gerechtigkeit“ nicht mehr gibt. „Auch dieses Rechtssystem ist Einflüssen von außen ausgesetzt.“ Es gebe heute Fälle von Prügelstrafen und Auspeitschungen. Die Serie der Lynchmorde aber sei kein ethnisches Phänomen. Sie haben zwar in meist abgelegenen Maya-Gemeinden begonnen, längst aber auch die Städte erreicht. Selbst in Guatemala-Stadt wird heute gelyncht, nicht nur von Indígenas. Prinzipiell gelte: „Das Kriminalitäts- und Gewaltniveau in indianischen Gegenden ist viel geringer als im nationalen Durchschnitt.“ Die Statistiken des staatlichen Menschenrechtsbeauftragten bestätigen das.
Von den rund 20.000 Einwohnern San Juan Cotzals sind 95 Prozent Maya. Bürgermeister Pérez Chen, vor seiner Wahl Direktor der örtlichen Volksschule, gehört genauso zu dieser Ethnie wie seine Häscher vom lokalen Sicherheitskomitee. „Man kennt diese Leute in der Stadt“, sagt Diego Sembrano. „Sie waren früher bei den Bürgerwehren und der Bürgermeister hat sie dann zu lokalen Sicherheitskräften gemacht.“
Diese Bürgerwehren – die Patrullas de Autodefensa Civil, kurz PAC – hatte die Armee im Bürgerkrieg als paramilitärische Einheiten aufgebaut. Sie waren die Spitzel und Todesschwadronen der Armee in den sogenannten Modelldörfern, in die die traditionell in weit verstreuten Siedlungen lebende indianische Bevölkerung zur besseren Kontrolle umgesiedelt wurde. Meist waren ihre Mitglieder zwangsrekrutiert worden. Auch rund um San Juan Cotzal hat die Armee damals mehrere Modelldörfer errichtet. Die Soldaten zwangen die Landbevölkerung dorthin.
Sie behaupteten, er wollte den Bürgermeister töten
„Die Struktur des lokalen Sicherheitskomitees ist heute noch dieselbe wie damals bei den PAC“, sagt Sembrano. Ein Kommandant, mehrere Züge, als Waffen einfache Flinten. „Am Anfang haben sie nur die Mitglieder der Jugendbanden festgenommen und das wirkte.“ In San Juan Cotzal sind die „Maras“ genannten Jugendgangs – anders als in vielen anderen Städten Guatemalas – heute kein Problem.
Auch dem Lynchmord an dem Polizisten Pedro Rodríguez Tomá ging die Verhaftung eines jungen Mannes voraus, den der Bürgermeister für das Mitglied einer Jugendbande hielt: Alejandro, des damals 16-jährige Sohns des Polizisten. Er war am Morgen des 1. November 2009 zusammen mit einem Freund und seiner Tante Teresa Gómez über den Platz vor der Kirche gegangen, als der Bürgermeister im Auto vorbeifuhr. Der Bürgermeister hielt an. „Sie waren keine zehn Meter auseinander und wechselten nur einen kurzen Blick“, erzählt Teresa Gómez. Und ja, Alejandros Blick sei ein bisschen abschätzig gewesen, von oben herab durch die schwarzen Stirnfransen hindurch. Der Bürgermeister wies seine beiden Leibwächter an: „Schnappt euch den Jungen. Der gehört zu einer Mara. Sperrt ihn in eine Zelle.“ Im Gefängnis schnitten sie ihm die Haare ab, erzählt seine Tante. „Sie sagten, er sehe aus wie ein Bandenmitglied.“
Die Tante erzählte Alejandros Mutter von der Verhaftung und die ging ins Gefängnis, um ihren Jungen herauszuholen. Sie sei beschimpft worden und geschlagen, so sehr, dass man sie im Krankenhaus habe behandeln müssen. Die beiden Frauen riefen den Vater zu Hilfe. Rodríguez Tomá kam, direkt vom Dienst im Nachbarstädtchen, in Uniform und mit Pistole.
Im Rathaus verlangte er den Bürgermeister zu sprechen. Der sei auf dem Friedhof, um das Familiengrab zu schmücken. Man werde ihn rufen. Er müsse aber seine Dienstwaffe abgeben; bewaffnet könne er nicht mit dem Bürgermeister sprechen.
Nach allem, was Teresa Gómez erzählt, weigerte sich der Polizist, seine Pistole auszuhändigen. Sie rangen darum. Dabei löste sich ein Schuss. Es ist unklar, ob er aus der Pistole des Polizisten kam oder aus einer der Waffen des lokalen Sicherheitskomitees. Ballistische Untersuchungen gab es nie. Jedenfalls traf eine Kugel einen der Leibwächter des Bürgermeisters am Bein. Dann überwältigten sie den Polizisten.
„Er muss furchtbar verprügelt worden sein“, sagt Diego Sembrano. „Bekannte haben mir erzählt, man habe seine Schreie noch hundert Meter weiter gehört.“
Später behaupteten Mitglieder des Sicherheitskomitees, Rodríguez Tomá habe versucht, den Bürgermeister zu ermorden.
Draußen auf dem Platz vor dem Rathaus, als Bürgermeister Pérez Chen den verprügelten Rodríguez Tomá dem Volk als Verbrecher präsentierte, hatte niemand den Mumm, etwas dagegen zu sagen. Polizisten sind in Guatemala nicht gut angesehen. Man hält sie für unnütz, für korrupt, für Komplizen der Verbrecher und oft genug sind sie das auch. Nur die Mutter von Rodríguez Tomá habe sich getraut, noch einmal zu ihrem Sohn zu gehen. Sie soll ihm die Hand auf den Arm gelegt haben: „Bete, mein Sohn. Mehr kannst du nicht mehr tun.“
Diego Sembrano zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und filmte, bis Pérez Chen die Männer seines Sicherheitskomitees auf ihn hetzte.
Die Bürgerwehren waren zwar nach dem Bürgerkrieg aufgelöst worden, ihre Mitglieder aber haben nie Ruhe gegeben. Zunächst forderten sie von der Regierung mit gewalttätigen Demonstrationen und Straßenblockaden Entschädigung für ihre „Verdienste fürs Vaterland“. Unter dem konservativen Präsidenten Oscar Berger wurde das genehmigt: Die PAC sollten die staatlichen Sicherheitskräfte bei der Bekämpfung der Kriminalität unterstützen.
Das Muster, nach dem sie vorgehen, sei noch immer dasselbe und habe mit Maya-Kultur nichts zu tun, sagt der Sozialpsychologe Carlos Sacayón. Bis zum Bürgerkrieg lebten die Maya abgeschlossen in ihren Gemeinden, hatten ihre eigenen Führer, eigene Strukturen. „Erst mit dem Krieg kam der Staat in diese Gemeinden, als repressive Armee“, erzählt Sacayón. Die Guerilla operierte damals vor allem in von Maya besiedelten Gegenden. Und weil die Armee in der indianischen Bevölkerung potenzielle Helfer der Aufständischen sah, ermordete sie deren Führer. „Die Maya haben den Staat kennengelernt als einen, der mordet und sie ohne Führung zurücklässt“, sagt Sacayón. Das entstandene Vakuum hätten neue Führer gefüllt: die PAC. „Mit ihnen kam die Herrschaft des Terrors, und es war besonders perfide, dass man Maya benutzte, um Maya zu ermorden.“ Opfer und Täter stammten aus demselben Dorf.
Guerilleros oder solche, die man dafür hielt, wurden vor versammelter Gemeinde erschossen oder erschlagen, ohne Prozess. „Das schuf ein neues Muster der Gewalt“, sagt Sacayón. Die lokalen Sicherheitskomitees machen das so wie früher die PAC. Aus den außergerichtlichen Exekutionen des Bürgerkriegs wurden Lynchmorde. Gehäuft trat das Phänomen erst nach dem Friedensschluss auf. Gelyncht wird nicht spontan, sondern geplant. „Es wird richtig dazu mobilisiert“, sagt Sacayón. „Mit Lautsprecherwagen, mit Trillerpfeifen, mit Kirchenglocken. Manchmal sogar mit direkten Aufrufen in Maya-Sprachen in den lokalen Radiosendern.“
Weil Opfer und Täter so eng verflochten sind, ist bislang keines dieser Verbrechen richtig aufgeklärt worden. „Wer fragt, stößt nur auf eine Mauer des Schweigens“, sagt Francisco Guaré von der staatlichen Menschenrechtsanwaltschaft.
Nur Diego Sembrano hat sich entschlossen, den Tod des Polizisten Pedro Rodríguez Tomá anzuzeigen und der Staatsanwaltschaft sein Mobiltelefon zu übergeben. Trotzdem dauerte es über ein Jahr, bis am 15. Dezember 2010 ein Haftbefehl gegen Bürgermeister Pérez Chen erlassen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm eine außergerichtliche Hinrichtung, Folter, Anstiftung zu einem Verbrechen, Körperverletzung, illegale Festnahme und Amtsmissbrauch vor. Pérez Chen tauchte unter.
Die Armee rückte ein, um den Mörder festzunehmen
Im Februar 2011 fand der erste Versuch statt, ihn festzunehmen. Tausend Polizisten und 200 Soldaten rückten auf Pick-ups und Mannschaftslastwagen in San Juan Cotzal ein, mit schwarzen Kapuzen über dem Gesicht, geschützt von schusssicheren Westen und Stahlhelmen. Das lokale Sicherheitskomitee wurde entwaffnet, sieben seiner Mitglieder verhaftet.
Die Angehörigen der Verhafteten gingen auf Polizisten und Soldaten los. Armee und Polizei zogen sich fluchtartig zurück. Der Bürgermeister wurde dann erst am 26. Juni vergangenen Jahres geschnappt, als Armee und Polizei San Juan Cotzal ein Wochenende lang besetzt hatten. Seitdem sitzt Pérez Chen in Haft.
Sein Anwalt sagt, der Bürgermeister habe mit all dem, was Rodríguez Tomá an jenem 1. November 2009 zugestoßen ist, nichts zu tun. Als der Polizist festgenommen wurde, sei sein Mandant auf dem Friedhof gewesen und habe das Grab seiner Familie geschmückt. Später habe der Polizist dann versucht, den Bürgermeister zu ermorden. Der Lautsprecherwagen sei nicht etwa durchs Dorf gefahren, um das Volk zu einem Lynchmord zu versammeln. Es sei nur zur Feier des Jahrestags der Gründung des lokalen Sicherheitskomitees eingeladen worden, die an diesem Tag vor dem Rathaus habe stattfinden sollen. Am Lynchmord selbst sei der Bürgermeister nicht beteiligt gewesen.
Francisco Guaré von der staatlichen Menschenrechtsanwaltschaft glaubt, man werde Pérez Chen allenfalls wegen Komplizenschaft verurteilen können.
Die Familie des ermordeten Polizisten Pedro Rodríguez Tomá ist aus San Juan Cotzal weggezogen. Auch Diego Sembrano musste nach der Anzeige die Stadt verlassen. Er lebt heute unter anderem Namen an einem anderen Ort. Die Staatsanwaltschaft lässt ihn rund um die Uhr von Leibwächtern schützen.
■ Toni Keppeler, 55, und Cecibel Romero, 40, recherchieren für ihr Journalistenbüro latinomedia.de Geschichten aus Lateinamerika. Über die Gangs der Maras schrieb Keppeler 2011 in der sonntaz, nachzulesen unter taz.de/mara
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