: Mit Taschenkontrollen zum Schulabschluss
taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 2): Die Heinrich-von-Stephan-Oberschule in Moabit, einst eine extrem verrufene Hauptschule, setzt auf klare Grenzen, strikte Kontrollen – und den guten alten Karteikasten. So sollen die Schüler wenigstens Rechtschreibung und einfache Rechenarten erlernen
von JEANNETTE GODDAR
So wie Jens Großpietsch von einem Tisch zum anderen eilt und Karten austeilt, könnte man meinen, er bekommt gleich einen Drehwurm. In enormem Tempo zieht er seine Kreise. Vor jedem der elf Schüler in der Runde nimmt er immer wieder eine Karte aus dem Karteikasten und liest vor: „Der oder die Baum“, sagt er, „eine schwere Tasche“ oder einfach nur „kaputt“ oder „Schere“. Was der Lehrer den Siebtklässlern aufgibt, sind Wörter oder Satzteile, die im Diktat falsch waren. Jedes kommt so lange in den persönlichen Karteikasten, bis der Fehler nicht mehr vorkommt. Bei jeder Runde kontrolliert Großpietsch die Abschrift aus der letzten, die nicht einmal eine Minute her ist. Dreimal in der Woche geht das so, eine halbe Stunde lang. Wer nicht schreiben kann, kommt im Leben nicht weiter, sagt der Schulleiter.
Um das Schreiben zu üben, hält man an der Moabiter Heinrich-von-Stephan-Oberschule an regelmäßigen Diktaten ebenso fest wie an dem vor fast hundert Jahren entwickelten Karteikasten-Prinzip. Dass das hilft, kann man den Fehlersäulen entnehmen, die an der Rückwand des Klassenzimmers hängen. Dort wird für jeden Schüler und für jede Klasse akribisch eingetragen, wer wo steht, welche Fortschritte, welche Rückschläge es gibt. Das, glaubt man hier, gibt nicht nur den Lehrern, sondern auch den Schülern mehr Klarheit als Noten. Schließlich, argumentiert der Schulleiter, sei ein Diktat mit 16 Fehlern immer noch eine Sechs – aber vielleicht schon deutlich besser als das mit 19 Fehlern vergangene Woche.
Die Heinrich-von-Stephan-Schule in der Stephanstraße in Moabit ist eine dieser Einrichtungen, um die sich bildungsbewusste Eltern nicht reißen. Von den 280 Schülern ist jeder zweite nicht deutscher Herkunft; die meisten Eltern stammen aus der Türkei oder dem arabischen Raum. Probleme bereiten in dem Kiez, in dem mehr als jeder Vierte arbeitslos ist, aber auch Kinder urdeutscher Eltern. Als „erziehungsohnmächtig“ beschreibt Schulleiter Großpietsch viele Familien. „Bildungsvorbilder gibt es kaum“, sagt er. „In vielen Familien gibt es nicht einmal gemeinsame Mahlzeiten, geschweige denn Bücher oder Diskussionen.“ Die Hälfte der Schüler, die hier in die 7. Klasse kommen, verfügen über die Deutschkenntnisse eines durchschnittlichen Drittklässlers.
Die soziale Schichtung schlug sich jahrzehntelang in einer katastrophalen Atmosphäre nieder. Wer wissen will, wie es hier einmal zugegangen ist, kann es auf dem Flur in einem Aufsatz aus den 80er-Jahren nachlesen: Seine Mutter hätte geglaubt, er sei auf eine „Idiotenschule“ gekommen, schrieb ein Schüler: „Coladosen lagen im Treppenhaus, die Wände waren beschmiert, alle rannten einen um und gaben freche Antworten. Es war schrecklich.“ Die Heinrich-von-Stephan-Schule war eine jener, an denen man ablesen kann, woher die einst auch im Wortsinne als Hauptschule gedachte Schulform ihr Synonym „Restschule“ hat. Keiner wollte hierher. Und wer hier war, wollte wieder weg. Viele kamen einfach nicht mehr. Jeder Dritte, erinnert sich ein Lehrer, hat es hier früher nicht zu einem Abschluss gebracht.
An den Wänden lässt sich aber auch nachlesen, unter welchem Motto sich etwas änderte. In den Räumen der Schulleitung hängt ein Zitat des Philosophen Karl Popper: „Es hat keinen Sinn zu sagen: Alles ist schlecht. Die wirkliche Frage ist: Was können wir tun, um es vielleicht nur ein kleines bisschen besser zu machen? Das ist natürlich eine Einstellung, die den Pessimismus ausschließt.“
Die Lehrer in der Schule, in der einen heute nicht nur ein helles und freundliches Treppenhaus, sondern auch hilfsbereite Schüler begrüßen, machten sich auf den Weg. Hin zu einem besseren Unterricht, hin zu mehr Miteinander, aber auch hin zu mehr Regeln, die eine konzentrierte Arbeit mit den Schülern überhaupt erst möglich machten. An der Schule herrscht striktes Waffen- und Drogen-, aber auch Handy-, Walkman-, und Kaugummiverbot. Bei täglichen Taschenkontrollen wird nicht nur die Einhaltung dieser Verbote kontrolliert, sondern auch das Unterrichtsmaterial der Schüler: In jede Griffelmappe gehören – und zwar immer – Füller, Patrone, Bleistift, Anspitzer, Radiergummi, Tintenkiller und Geodreieck. Jeder Verstoß wird umgehend mit den Eltern diskutiert. Diese erhalten zusätzlich jede Woche einen persönlichen Brief der Schule und werden schon im Aufnahmegespräch dringend um Beteiligung an der Erziehung ihres Nachwuchses gebeten.
Ein weiterer großer Schritt wurde gemacht, als es Ende der 90er-Jahre gelang, einen Schulversuch als integrierte Haupt- und Realschule durchzusetzen. Seither kommt jeder Dritte mit einer Realschulempfehlung. „Die Besseren ziehen die Schlechteren mit“, sagt Großpietsch, „in der Leistung, aber besonders in ihrem Verhalten.“ Weil Haupt- und Realschüler gemeinsam unterrichtet werden, hat man ein komplexes System innerer Differenzierung entwickelt. Im Matheunterricht der siebten Klasse zum Beispiel liegt vor jedem Kind ein Heft, auf dessen Deckblatt die aktuellen Themen eingetragen werden. In seinem eigenen Tempo – und oft quälend langsam, sagt die Lehrerin Karin Jaeger – arbeiten sich die Schüler durch ihre Themen. Während der eine schon am Dreisatz sitzt, arbeitet sich der andere das ganze Halbjahr an den Grundrechenarten ab. Um alle Schüler dabei auch noch betreuen zu können, gehen die Lehrer grundsätzlich zu zweit in die Klassen.
Eins wird aber auch deutlich: Differenzierung hat hier wenig damit zu tun, dass sich die Kinder möglichst frei und selbstständig entwickeln. Freiarbeit, sagt Großpietsch, sei mit Schülern, die das Lernen nie gelernt hätten, nur begrenzt möglich. Stattdessen ist alles darauf ausgerichtet, ihnen Dinge beizubringen, ohne die man eine Schule eben nicht verlassen sollte: Rechtschreibung, Lesekompetenz, einfache Rechenfertigkeiten. Das mag banal klingen, ist aber angesichts der Tatsache, dass jeder siebte Berliner Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlässt, eine enorme Herausforderung.
Dass die Kinder nicht deutscher Herkunft im Kampf um eine bessere Schule im Mittelpunkt der Bemühungen stehen, steht für den Schulleiter fest. Mehr als 20 Prozent in der Klasse senken das Niveau. „Wir brauchen vereinte Kräfte, um das auszugleichen“, fordert Großpietsch. Deswegen wird auch nicht nur Rechtschreibung extra geübt: Jeden Morgen bekommen alle, die es nötig haben, Förderunterricht in Deutsch und Mathe. Um herauszufinden, wer was nötig hat, setzen sich mindestens einmal im Halbjahr alle Lehrer zusammen und vergleichen, welcher Schüler und welche Klasse wo steht. Das kontrolliert nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrenden: „Erst einmal kann hier jeder unterrichten, wie er es für richtig hält“, sagt Großpietsch. „Aber wir haben genau im Blick, wozu das führt.“
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