: „Die Bankenkrise katalysiert keine Radikalität“
POLITIK Wie ist es um die Demokratie bestellt? Henrique Ricardo Otten und Manfred Sicking über einen von ihnen herausgegebenen Sammelband
■ Henrique Ricardo Otten ist Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen.
■ Manfred Sicking ist Kodezernent der Stadt Aachen und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen.
taz: Herr Otten, Herr Sicking, leidenschaftliche und kritische Teilhabe an der Politik ist das Thema der von Ihnen herausgegebenen Essaysammlung. Fehlt in Deutschland eine demokratische Streitkultur?
Henrique Ricardo Otten: Vor 20 oder 30 Jahren hätten wir darüber diskutiert, nach welchen Regeln politischer Streit zivilisiert ausgetragen werden sollte. Heute steht die Praxis leidenschaftlichen Streits um politische Richtungsentscheidungen selbst infrage. Unter der Herrschaft von Imperativen sogenannter Modernisierung hat sich die Auseinandersetzung der Parteien inhaltlich ausgedünnt.
Manfred Sicking: Die Kultur des politischen Streitens hat sich in den letzten Jahrzehnten merklich verändert. Hatte man bei den bissigen Debatten und Zwischenrufen von Wehner, Blüm und später auch noch Fischer den Eindruck eines lebendigen Parlaments, erscheinen einem heutige Debatten eher gestylt und stromlinienförmig.
Der Politikwissenschaftler Kurt Lenk schreibt in seinem Beitrag von einer „Rand-Angst“ in der Politik. Mangelt es denn an eindeutigen und radikalen Positionen?
Sicking: Wenn nicht, dann fehlt zumindest der Mut, solche Positionen auch ungeschminkt zu äußern. Selbst die Bankenkrise katalysiert keine Radikalität, die es erlaubt, das System ernsthaft infrage zu stellen. Die Gravitation der (neuen) Mitte scheint radikale Positionen auszuschließen.
Otten: In den medialen Diskursen dominieren Vereinfachungen, als sei etwa bloßer „Gier“ die Schuld an der Krise des Finanzsystems zu geben oder als handele es sich aktuell um eine schlichte „Staatsschuldenkrise“. Die „Rand-Angst“ dürfte heute vor allem in einer Scheu davor bestehen, aus dem medialen Mainstream auszubrechen und ernsthaft begründete Zweifel an den gängigen Diagnosen und Lösungsversuchen der Krise vorzubringen.
Politische Entscheidungsgrundlagen werden immer öfter in Expertengremien bearbeitet. Ist das für ein handlungsfähiges politisches System notwendig?
Sicking: In einer vernetzten und komplexen Welt sind Expertengremien unverzichtbar. Meiner Auffassung nach haben diese jedoch nicht die Aufgabe, die komplexen Fragestellungen im Elfenbeinturm zu entscheiden, sondern diese auf ein verständliches Niveau herunterzubrechen, so dass die Volksvertreter nach bestem Wissen entscheiden können.
Otten: Besonders problematisch scheint mir, dass die Politik selbst immer häufiger für sich eine Art von „Expertenstandpunkt“ beansprucht, wonach eine getroffene Entscheidung „alternativlos“ sei. Für „alternativlose“ Entscheidungen bräuchte es die Komplexität demokratischer Prozesse nicht.
Ein Beitrag Ihres Bandes beschreibt die Partizipationsmöglichkeiten in der attischen Demokratie. Heute wird den Griechen ihre Politik von der Troika diktiert. Keine guten Voraussetzungen für ein Interesse an politischem Engagement, oder?
Sicking: Im Falle Griechenland ist es doch eher so, dass politisches Handeln gerade das Engagement breiter Bevölkerungskreise erst ausgelöst hat.
Otten: Das sehe ich ähnlich: Die zunehmenden Proteste, nicht nur in Griechenland, können durchaus die Diskussion über politisch-ökonomische Strukturen revitalisieren. Die Menschen werden damit konfrontiert, dass die Richtlinien der Politik von außen vorgegeben werden, als eine besonders augenfällige Variante des Verlusts nationalstaatlich verfasster demokratischer Selbstbestimmungsfähigkeit. Diese Debatte wird stärker werden.
Henrique Ricardo Otten
Das Thema Rechtsextremismus spielt in ihrem Band eine Rolle. Wie soll die Öffentlichkeit mit rechten Positionen umgehen?
Sicking: Wichtig ist und bleibt eine aufgeklärte Auseinandersetzung mit rechten Strömungen – gerade auch im Bereich der politischen Bildung. Ein besonderes Gespür gilt es dabei zu entwickeln, antidemokratische Positionen auf den Weg in die Mitte der Gesellschaft zu identifizieren, um rechtzeitig intervenieren zu können. Die Sarrazin-Debatte ist hierfür ein Beispiel.
Otten: Bei einer Partei wie der NPD und den ihr nahestehenden Gruppierungen brauchen wir zivilgesellschaftliche Wachsamkeit und eine klare Ausgrenzung. Eine offen rassistische Partei, die mit einer Bewegung verbunden ist, die Menschen bedroht und einschüchtert, ist keine Partei für Demokraten.
INTERVIEW: MICHAEL RÖSENER
■ Henrique Ricardo Otten, Manfred Sicking (Hg.): „Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen“. Transcript, Bielefeld 2011, 310 S., 29,80 Euro
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