Modis gescheiterter Wahlsieg in Indien: Ein Fest für die Demokratie

Mit Graswurzel-Aktivismus hat die indische Opposition Modi den Durchmarsch verwehrt. Das ist ein Triumph für die Demokratie – nicht nur in Indien.

Eine Menschenmenge, einer trägt eine Maske des indischen Premierministers Modi

Modi-Fan während des Wahlkampfs in Ahmedabad, Indien

Es wird überall gewählt, auf (fast) allen Kontinenten. In Mexiko und Südafrika, in der Europäischen Union und monatelang auch in Indien. Letzte Woche wurde dort das amtliche Ergebnis verkündet und zur Überraschung aller professionellen Propheten, die mit dubiosen Methoden den Wahlausgang vorhersagten, hat die BJP-Regierung des Premierministers Narendra Modi viele Parlamentssitze verloren.

Trotz einer in der Geschichte des Landes beispiellosen Kontrolle der Medien, trotz einer Vereinnahmung der Institutionen und voller Wahlkampfkassen, trotz einer ohrenbetäubenden hindunationalistischen Rhetorik, trotz Razzien der Steuerbehörden in den Häusern der politischen Gegner und der Verhaftung manch eines Oppositionellen, ist es der BJP nicht gelungen, eine einfache Mehrheit im indischen Parlament zu gewinnen. Das ist bemerkenswert!

Während der drei Wochen, die ich im Mai in Indien verbrachte, strotzten die Zeitungen nur so vor Selbstdarstellungen des Premierministers, dessen tägliche Wahlkampfreden prominent platziert und ausführlich wiedergegeben wurden. Auch wenn sie oft absurde Behauptungen enthielten. Etwa, dass die oppositionelle Kongress-Partei unter ihrem Führer Rahul Gandhi die Einführung der Scharia plane. Oder dass sie ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit durchpeitschen werde, indem sie den hinduistischen Frauen den Eheschmuck entreißen werde, um diesen an die Muslime zu verteilen.

Anstatt über wirtschaftliche Visionen zu reden, besteht die Strategie der BJP in krudester Identitätspolitik: Wir, die Hindus, sind das wahre Indien, die Muslime sind allesamt „Eindringlinge“ und „Dschihadisten“. Dieses Narrativ überflutet die sozialen Medien und schafft eine Atmosphäre der Angst und Feindseligkeit. Und trotzdem hat es nicht gefruchtet. Das ist ermutigend!

„Die Menschen haben Modi gezeigt: Du bist nicht Gott, und du kannst ersetzt werden“, erklärte nach dem Wahlausgang Srinivas Venkata, ein hochrangiger Kongresspolitiker, „Millionen armer Inder haben dafür gestimmt, das säkulare Gefüge unseres Landes zu schützen.“ Anders gesagt: Millionen von überwiegend ungebildeten Menschen haben erkannt, dass der Personenkult um Modi und die Instrumentalisierung von Religion in der Politik nicht in ihrem Interesse liegt. Und ein Aktivist der Oppositionspartei sagte voller Inbrunst: „In den Dörfern verbreitete die BJP jahrelang Lügen gegen uns – mit der Behauptung, wir seien Anti-Hindu. Sie haben meine Religion als Waffe gegen mich eingesetzt, um Stimmen zu gewinnen.“ Vergebliche Demagogie.

Wie schon zuvor in Pakistan hat die in den medialen Untergrund getriebene Opposition mit basisdemokratischem Aktivismus und Youtube-Aktionismus reagiert. Rahul Gandhi begab sich auf zwei langwierige Fußmärsche durchs Land und arbeitete mit lokalen politischen Gruppen zusammen, die für soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der Demokratie kämpfen. Während die BJP zentrale Themen wie Beschäftigungswachstum, zunehmende Ungleichheit und wirtschaftliche Not, vor allem in den ländlichen Gebieten, ignorierte.

Modis Errungenschaften wurden ungleich verteilt

Was sprach für die Modi-Regierung? Der Wandel im Alltag (vor allem auf dem Land) ist bemerkenswert. Weitreichende Elektrifizierung der Dörfer, sauberes Wasser und anständige Toiletten für Hunderte von Millionen Menschen sind wichtige Errungenschaften. In den letzten dreißig Jahren wuchs das indische Bruttoinlandsprodukt durchschnittlich um mehr als 6 Prozent im Jahr.

Doch die Früchte dieses Wachstums sind grausam ungleich verteilt. Der Anteil des Bruttosozialprodukts in den Händen des obersten Prozents schoss von 10 auf 22 Prozent. Der Wohlstand in Indien ist heute in etwa so ungleich verteilt wie in Putins Russland. Das reale Durchschnittseinkommen ist von 2014 bis 2019 um jährlich 4,3 Prozent gesunken. 2020 erzielte Indien auf dem Humankapitalindex der Weltbank, der Bildung und Gesundheit auf einer Skala von 0 bis 1 misst, einen Wert von 0,49 und lag damit noch unter Nepal und Kenia, beides erheblich ärmere Länder. Am dramatischsten benachteiligt sind Indiens Frauen. Seit 1990 ist die Erwerbsbeteiligung der indischen Frauen gesunken. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 konnte weniger als die Hälfte der 10-Jährigen eine einfache Geschichte lesen, verglichen mit mehr als 80 Prozent der chinesischen Kinder und 96 Prozent der amerikanischen. Es ist der Opposition gelungen, diese Themen ins Bewusstsein zu rücken. Das ist vorbildlich!

Die von der Hindutva behauptete Homogenität kann nur durch Zwang, Gewalt, Manipulation und Lüge durchgesetzt werden

Der Kampf gegen ideologischen Hass ist noch lange nicht vorbei, und das Versagen der indischen Institutionen bei der Wahrung demokratischer Regeln gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Die indische Gesellschaft zeichnet sich historisch durch ihren Pluralismus aus, ein Erbe komplexer Zusammenflüsse, die auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen sind, weswegen die von den Hindunationalisten behauptete Homogenität nur durch Zwang, Gewalt, Manipulation und Lüge durchgesetzt werden kann. Der Aufstieg der Hindutva schürt Gewalt im ganzen Land. Soziale Spannungen werden durch das Streben nach kultureller Hegemonie angeheizt.

Der Kampf um Indiens Seele wird sich in Zukunft noch zuspitzen. Auf der einen Seite jene, die religiösen Pluralismus und die in der Verfassung verbrieften individuellen Rechte verteidigen wollen, auf der anderen Seite die ausgrenzenden Kräfte der Hindutva. Indiens vielfältige und ­integrative Identität steht auf dem Spiel. Das ist kein regionales Problem. Gut möglich, dass das Schicksal der pluralen Gesellschaft in Indien entscheidende Auswirkungen auf das Schicksal demokratischer Strukturen in der ganzen Welt ­haben wird.

In einer Rede, die Modi im Hauptquartier der BJP hielt, bezeichnete er die Wahl als ein „Fest für die Demokratie“. Da hatte er ausnahmsweise recht.

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