Die große Liebe

Lesungen bei Laubenpiepern, zukünftige Klagenfurt-Gewinnerinnen und viele junge Menschen, die sich brennend für deutschsprachige Gegenwartsliteratur interessieren: „Prosanova“, das Festival für junge Literatur in Hildesheim

So wie er aussah, hing der Zettel schon ein paar Tage an der Tür des Vereinsheims der Hildesheimer Kleingartenkolonie „Wellenteich“: „Am Samstag ab 11 Uhr 30 Grillen, Euer Norbert“ stand dort drauf, was sich auch lesen ließ als: business as usual. Denn Norbert und die Seinen ließen sich nicht aus ihrer Kleingartenruhe reißen von dem ungewohnten Treiben, das die Veranstalter des Festivals für junge Literatur „Prosanova“ um sie herum entfachten. Zwölf Lesungen standen an diesem heißen Samstag auf dem Festivalprogramm, Lesungen junger Autoren und Autorinnen in den Lauben von Kleingärtnern, sozusagen privat, zwischen Gartenzwergen und Hirschgeweihen. Ein hübscher Versuch, junge deutschsprachige Literatur und deutsche Wirklichkeit aufeinander prallen zu lassen, gar miteinander zu verwirbeln.

Das haute zwar nicht so hin, doch bewies die Exotik des Ortes, wie charmant und bemerkenswert dieses Festival war, und der mit der Wahl dieses Ortes verbundene organisatorische Aufwand, wie viel Mühe sich die Prosanova-Veranstalter gegeben hatten und wie viel Enthusiasmus mit im Spiel war.

Letzterer brach sich am sinnfälligsten Bahn bei der Veranstaltungsreihe „Das 21. Jahrhundert“. Hier gab es Lesungen von Autoren, die in den letzten fünf Jahren „tolle“ Bücher vorgelegt haben, Jenny Erpenbeck 2001, Henning Ahrens 2002, die Jahre darauf Tilman Rammstedt, Terézia Mora und Uwe Tellkamp. An sie alle ging vorab eine „Liebeserklärung“, „an Autoren, die uns über alle Maßen begeistern, an Bücher, die wir nicht vergessen können, an die Gegenwart und an die Zukunft“, wie es Florian Kessler, einer der jungen Veranstalter, erklärte. Klar, dass sich das schon mal so anhörte: „Ich liebe Tilman Rammstedt. Ich liebe ihn, weil er so rasant vorliest.“

So wie hier eine sympathische Ungebrochenheit vermittelt wurde, so bewusst naiv und kokett gab sich Kessler, als er davon sprach, die „große“ Gegenwartsliteratur werde ja in Berlin vorgestellt (wo zeitgleich die Schreibwerkstatt des LCB im Rahmen der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises stattfand) oder in Klagenfurt. Dazu passte, dass alle Feuilletons mit Berichterstattern oder Moderatoren vor Ort waren, diese aber noch bestaunt wurden: „Ich dachte immer, Literaturkritiker seien älter, gediegener, mit Schlips und so“, entfuhr es einer der Prosanova-Frauen.

Es gab natürlich auch betriebsübliche Diskussionsrunden oder Lesungen von Jungtalenten zwischen Studium und Establishment. Wie etwa die der 20-jährigen Literaturinstitutsstudentin Susanne Heinrich, die demnächst beim Bachmann-Lesen in Klagenfurt dabei ist und im Herbst einen Roman bei Dumont veröffentlicht. Nur fiel Heinrich weniger durch ihren Text auf als dadurch, dass sie überzeugend eine Mischung aus Baby Doll und Biest gab.

Vielleicht aber hat ja tatsächlich jemand die „Notwendigkeit“ und die „Emotion“ in Heinrichs Texten erkannt, beides Merkmale, die die Lektorin Christiane Schmidt in der Diskussionsrunde über das „Kreative Schreiben“ als Grundvoraussetzung für die Güte von Texten bezeichnete. (Was übrigens in seiner Gebetsmühlenartigkeit schon wieder provoziert: Eitelkeit, Ruhmsucht oder Geldgier müssen einem guten Text nicht im Weg stehen.) Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, der in Hildesheim kreatives Schreiben lehrt, ließ wiederum nicht den Vorwurf gelten, seine Schützlinge (oder jene vom Leipziger Literaturinstitut) würden eine Idee zu viel belanglose Party- und Beziehungsgeschichten fabrizieren. Das sei eben so, von Zwanzigjährigen könne man keinen größeren Erfahrungshorizont verlangen. Immerhin, so Ortheil, schicke man demnächst junge Autoren per Austausch in die Welt, im Moment seien gerade welche in Chile. Dass ein Chile-Aufenthalt nicht vor einer Mädchen-die-Jungs-Geschichte schützt oder gar Welthaltigkeit garantiert, erwähnte Ortheil nicht.

Dass es aber auch auf der anderen Seite des Literaturspektrums nicht leicht ist, erläuterte Thomas Meinecke bei der Diskussionsrunde „Heute politisch schreiben“. Meinecke wunderte sich, dass der Rundruf der Feuilletons zu aktuell politischen Themen nie lange auf sich warten lasse, man aber als Schriftsteller keine politische Allroundkompetenz habe. Dieser Einwand hätte schon das Schlusswort sein können, doch auch diese Show musste weitergehen, da ging es bei Prosanova zu wie auf jedem anderen Literaturfestival.

Handfester war da schon das Livehörspiel des Schweizers Raphael Urweider, der mal mehr, mal wenige gefakte Telefonate mit zwei zwielichtigen Hildesheimer Bürgern in seine mit dem Musiker Ted Gaier und dem Audiokünstler Kim Oetliker ausgearbeitete Performance einbaute: mit Norbert Schittke, dem „Kanzler“ der „Exilregierung Deutsches Reich“, (ja, den gibt es wirklich!) und mit Franz-Georg Schwetje, dem ehemaligen Besitzer des Möbelhauses, in dem die meisten der Prosanova-Veranstaltungen stattfanden. Schwetje versuchte einst, sein Geschäft vor dem Konkurs zu retten, in dem er Polstergarnituren mit dem Namen „Adolf“ oder den Einbauschrank „Rommel“ verkaufte.

Urweiders Performance war bestechend konkret, da zeigte sich, dass auch ein verschlafenes und scheinbar menschenleeres Städtchen so seine Leichen im Keller hat und dass der von Prosanova überzeugend vermittelte Eindruck, in Hildesheim gebe es ausschließlich junge Menschen, die sich brennend für junge Literatur interessieren, natürlich ein trügerischer war. GERRIT BARTELS