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Herrn Haeses zart verlötete Mythen

„Raumgrafiken“ hat der vor 100 Jahren in Kiel geborene Bildhauer Günter Haese seine Plastiken genannt. Ihr prägendes Material sind Zahnrädchen, Federn und Unruhen

Mythologischer Inbegriff des körperstarken Mannes: Herkules heißt Haeses Gebilde aus Messing und Phosphorbronze Foto: Andreas Pauly/Museum Lothar Fischer Neumarkt

Von Bettina Maria Brosowsky

„Günter Haese zum 100. Geburtstag“: Dazu lädt derzeit das Sprengel Museum Hannover ein. Und zeigt in einem Raum seiner Sammlungspräsentation „Abenteuer Abstraktion“ sieben von Haeses außergewöhnlichen, filigranen und poetischen Kleinplastiken aus den Jahren 1963 bis 2014. Eine weitere, achte, findet sich im Raum „Material“ des Erweiterungsbaus. Dort wird seit 2019 unter dem Titel „Elementarteile“ ein Querschnitt der Sammlung gezeigt, mit deren Schenkung die Familie Sprengel die Stadt dazu brachte, das Museum zu errichten.

Aber ob nun sieben oder doch acht Arbeiten: Damit kann es die Geburtstagsschau rein quantitativ nicht ansatzweise aufnehmen mit der im Sommer 2022 vom Ernst Barlach Haus in Hamburg ausgerichteten Retrospektive des Gesamtwerkes Haeses. Dort waren es etwa 40 Arbeiten.

Aber um Vollständigkeit geht es in Hannover nicht. Zum einen wird die Schenkung von vier Arbeiten aus dem Nachlass Haeses gewürdigt, zum anderen das Charakteristische eines unkonventionellen Werkes in den Fokus genommen. Denn Haese,1924 in Kiel geboren, 2016 bei Hannover gestorben, hat einen ganz eigenen Weg in der Kunst beschritten. Als junger Mann war er noch für drei Jahre Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen, genauer: Funker der Artillerie. Auch unmittelbar nach 1945 war für ihn nicht an ein Kunststudium zu denken.

Stattdessen folgten das autodidaktische Training, der Besuch einer privaten Kunstschule in Plön, die Eheschließung mit einer Malerin. 1950 nahm Haese dann sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf auf. Er zeichnete und malte, stellte aber bald fest, dass dies nicht seine künstlerische Heimat werden würde. „Der Faden war einfach abgerissen“, sagte er einmal. Er wechselte in die Bildhauerklasse zu Ewald Mataré, absolvierte dort 1956 sein Meisterschuljahr, zeitgleich mit dem drei Jahre älteren Joseph Beuys.

Unsicherheit prägte Haeses eigenes Tun. Bei Mataré beschränkte er sich somit darauf, an der Ausführung von dessen Arbeiten mitzuwirken. „Man kannte alles, wusste alles, und die eigenen Möglichkeiten waren einem fremd“, fasste er dieser Phase zusammen. Erst 1960 konnte er sich, wieder in eigenen Worten, „freischwimmen“: Da fand er nämlich beim Zerlegen einer Uhr zu seinem Material.

Stets ist die Außenform mit jeder Menge sichtbarem und filigranem Innenleben ausgefüllt

In der Folge hielten die feinen Zahnrädchen aus Messing, die Federn, Unruhen und kleinen Wellen Einzug in seine Arbeit: erst als zweidimensionale Monotypie-Blätter – neuerlich für ihn unbefriedigend, allenfalls als Vorstufe empfunden – ab 1962 dann in dem, was er als seine „Raumgrafik“ bezeichnete, also dreidimensionalen, von zarten plastischen Linien durchzogenen und gebauten Objekten. Dafür erweiterte er seinen Materialfundus um dünne Messingdrähte, feines Gewebe und Gittergeflecht aus Messing oder der etwas stabileren Phosphorbronze.

Der Lötkolben wurde zum primären Handwerkszeug, das fortan die fantastischen Gebilde durch winzige Metallpunkte zusammenhielt. Sie sollen alle ohne Skizzen oder gar exakte Planzeichnung entstanden sein, sind also eine durch und durch intuitive Angelegenheit, ein Prozess des Machens und organischen Wachsens, der auf die Magie des Materials und die Akribie der handwerklichen Finesse setzt. Jede der maximal rund 60 Zentimeter großen Kleinplastiken – lediglich Haeses turmartigen Gebilde können auf über einen Meter anwachsen – hat eine äußere Umrissform, die unmittelbar Assoziationen an technische Strukturen eröffnet. Sind es flach liegende Radarschüsseln, aufrechte Sende- oder Lautsprecherarrangements oder gar konstruktivistische Architekturvisionen?

Günter Haese: „Ein anderer Mond“ Foto: Pauly/Museum Lothar Fischer

Stets ist die Außenform mit jeder Menge sichtbarem Innenleben ausgefüllt: flächig aufgerollte Federn, kleine Kugeln oder Zylinder aus Drahtgewebe, die Staubgefäßen gleich auf Messingdrähte aufgepflanzt sind, oder, wie Insekten und anderes Kleingetier, ein Volumen recht frei in Beschlag nehmen. Nimmt man noch Haeses Titel hinzu: Zephir, der antike Gott des milden Westwinds, Herkules, der mythologische Inbegriff des körperstarken Mannes, oder Samarkand, eine magische, antike Stadt im heutigen Usbekistan, verliert man sich in einer ganz eigenen, durchaus humorvollen Gedankenwelt. Die erkannte auch Kunstkritik und -markt unmittelbar nach 1962. Haeses Karriere verlief fulminant: 1964 eine erste Einzelausstellung in Ulm, der unmittelbar einer weitere im New Yorker Museum of Modern Art folgte, sowie Beteiligungen an der Biennale in Venedig, der Documenta in Kassel, der Weltausstellung in Montreal.

Leider verschwinden die Arbeiten Günter Haeses im Sprengel Museum, vielleicht dem beengten Raum geschuldet, unter Glashauben. Dadurch sind sie eines Moments beraubt, das in der offenen, ungeschützten Aufstellung im Hamburger Barlach Haus ihre finale Magie ausmachte: ein kinetisches Potenzial, das sie mit flirrender Vibration auf winzigste Bewegungen der Luft reagieren lässt. Denn natürlich hatte man sich trotz Verbot getraut, sie ganz, ganz vorsichtig anzupusten.

Ausstellung „Günter Haese zum 100. Geburtstag, Sprengel Museum Hannover. Bis 28. 7.

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