: Zum Wir führt kein Weg
Zur Bühnenfassung von Michel Friedmans Buch „Fremd“ heißt Hannovers Staatstheater alle unwillkommen: Stephan Kimming hat es in klassisches Erzähltheater verwandelt
Von Jens Fischer
Schon das Bühnenbild von Katja Haß: eine eindrucksvolle Ausladung an Figuren, die handeln wollen. Um sie ganz nah ans Publikum heranzurücken, ist die Spielraumtiefe in trostloser Anmutung versperrt durch eine schmucklose Bank vor einer schäbigen Wartesaal-Wand. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, ab und an werden Ausblicke ins Freie auf sie projiziert, vor allem aber sind in Düsternis vor sich hin schlenkernde Gardinen zu sehen, hinter denen es regnet und stürmt.
Unwillkommen, also fremd sollen sich alle am Schauspiel Hannover in der Uraufführung von Michel Friedmans 160-seitigem Prosagedicht „Fremd“ fühlen. Schließlich ist genau das Thema des Abends, welches der Autor grundsätzlich als existenzielles Gefühl verhandeln will: ausgehend von der Verlorenheit des Menschen im endlos wachsenden Universum übers Unbehaustsein in der durchökonomisierten Alltagsrealität bis zur heillosen Identitätsfrage. Friedman artikuliert die „Angst vor dem Fremden in mir“ und gleichzeitig auch die „Sehnsucht nach dem verdrängten anderen“. Eindringlich deutlich stellt er Fremdheitserfahrungen als Ursache von Ausgrenzungen dar. Ausgangspunkt des assoziativen Rundumschlags ist Friedmans Biografie: Da sie auf Oskar Schindlers Liste standen, haben seine polnisch-jüdischen Eltern den Holocaust überlebt.
„Ihre Freude war kurz. / Ihre Trauer war ewig.“ Nach dem Krieg zogen sie als „Réfugiés polonais“ von Krakau nach Paris mit dem UN-Pass für Staatenlose, dem „Unsicherheitspass“, der sie als fremd abstempelte, was lieblose, diskriminierende bis feindselige Konfrontationen zur Folge hatte. Friedman musste als Kind die untröstlichen Eltern im Leben halten. Dabei blieben sie ihm genauso fremd, wie ihre Entscheidung, 1965 ins „Land der Täter“ überzusiedeln, wo heute der lange versteckte Antisemitismus wieder lauthals gefeiert wird. Wer bin ich, wozu/wohin gehöre ich? „Ein Ich im Transit“, ein Leben „irgendwo im Nirgendwo“ lauten Friedmans Antworten. Rasend viele Anknüpfungspunkte also fürs Theater.
Regisseur Stephan Kimmig überträgt den brüchigen, kraftvoll verdichteten Monolog der Vorlage in eine spannungsgeladene Familienkonstellation – mit dem steifstaksigen Vater als Verdrängungs- und Anpassungsweltmeister (Max Landgrebe), einer depressiv freudlosen, immer kurz vor der Verzweiflungsexplosion stehenden Mutter (Stella Hilb) und den beiden Kindern (Alban Mondschein, Christine Grant), die einfach raus und leben wollen. Ihr trauriges Resümee nach überreichlich erlebten Widerständen und Anfeindungen: „Einmal Ausländer, / immer Ausländer. / Assimiliert, / trotzdem Ausländer. / Integriert, / trotzdem Ausländer. / Emanzipiert, / trotzdem Ausländer.“
Das so persönliche Psychogramm wie wirkungsvoll verallgemeinernde Zeitdokument Friedmans wird in Hannover zu klassischem Erzähltheater. Das Fremdsein, Falschfühlen lastet dabei als Verlorenheit fast paralysierend auf den Szenen und ist die durchgängig emotionalisierende Haltung des Ensembles. Empathisch leise memoriert es Seite für Seite des Buchs im reflektierenden Tonfall, sucht in zumeist statischen Situationen nach Klang, Rhythmus, Bedeutungen des Textes und veranschaulicht ihn immer mal wieder in zwischenmenschlichen Momenten der Ent- wie auch Befremdung. Plötzlich rappt die Tochter eine Passage, ihre Mutter versucht vergeblich einzustimmen – als Beispiel wachsender Ferne der beiden. Und nach jahrelang demütigender Behandlung durch Beamte der Ausländerbehörde brüllt die Tochter aus ihrer Ohnmacht heraus: „Ich bin wer!“ Mit Grant als PoC-Darstellerin werden dabei auch Assoziationen zu Alltagsrassismus und struktureller Benachteiligung nichtweißer Deutschen geweckt.
Es wird sehr präzise gesprochen und sehr schön sehr trauriges Liedgut a cappella intoniert, aber es fehlen der große dramatische Bogen und eine klare Auseinandersetzung mit der Vorlage oder ihre performative Öffnung, um sie nicht nur hörbar zu machen, auch zu diskutieren. Oder zumindest einen Umgang mit den offensiven Akzentuierungen und plakativen Verkürzungen zu finden, wenn es etwa heißt: „Was ist der Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem gern gesehenen Ausländer? Die Kreditkarte.“ Seine aus Talkshows, Podiumsdiskussionen, Interviews, publizistischen Beiträgen bekannten Polemiken serviert Friedman in „Fremd“ mit gleicher Schärfe, nur pointierter. Etwa gegen den gleichgültig machtstrotzenden Umgang der Bürokratie mit Migranten, gegen Hass, Ausgrenzungspolitik oder leere Rituale des Holocaust-Gedenkens und eine in Wort und Tat schweigende Mehrheit, wenn „Wehret den Anfängen“ ganz oben auf der To-do-Liste stehen müsste. Anklägerisch heißt es: „Roma, / Sinti, / Queere, / Homosexuelle, / Migranten, / Flüchtlinge. / Fragt, wen ihr wollt, / welche Minderheit auch immer, / fragt sie nach dem eingebrannten Schmerz, / den ihr verursacht / mit eurer hässlichen Unschuld. / Mit der Unschuld, / die ihr euch selber vorspielt, / die Einsamkeit hinterlässt, / die Narben hinterlässt, / die nie verheilen.“
Friedman spricht von „ihr“, nie von „wir“. Teil eines Wir zu sein, scheint er aufgegeben zu haben, will aber das Gute finden, es zumindest wirklich suchen, sagt ein Darsteller. Was das Publikum genauso gern hört wie all die Abrechnungen mit den Auswirkungen, Verursachern und Trägern des Hasses. Auch ermöglicht der Abend einfühlsam, sich auf die fast selbstzerstörerischen Folgen des Holocaust für die zweite Generation einzulassen. Aber den umfassenden Fremdheitsdiskurs deutet die Inszenierung nur an, für 100 Aufführungsminuten wird aus zu viel Text leider etwas zu wenig Theater.
Aufführungen: Staatstheater Hannover, Schauspielhaus, 13. 12., 16. und 27. 1., jeweils 19.30 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen