berliner szenen: Strohfeuer und Eselchen
Vor einem Treffen mit Kolleginnen ist noch etwas Zeit. Rasch noch praktisch sein und was erledigen, denke ich und gehe in den DM zwei Häuser weiter. Sodass man direkt drauf zu steuert, ist dort ein Berg Klopapier aufgebaut. „Mit 30% Stroh“ steht groß oben drüber. Ob das nicht piekt, frage ich mich, hätte aber Lust, es auszuprobieren, weil es doch bestimmt sehr umweltfreundlich ist. Dann sehe ich allerdings das Preisschild, 7 Euro noch was, und bin plötzlich gar nicht mehr open minded. Denn so einen güldenen Hintern habe ich leider nicht.
Draußen im Regen bittet mich ein älterer Zausel um etwas Geld. Ich krame ein Geldstück hervor. Er bedankt sich und fügt noch etwas Nettes hinzu, so als fühlte er sich wegen der 50 Cent dazu bemüßigt, mit mir Konversation zu betreiben. Nebenbei fummel ich in der Dunkelheit und im stärker werdenden Regen an meinem Fahrradschloss herum und verstaue meinen Einkauf.
Der Bettler wendet sich mit seiner Bitte an eine junge Frau. Sie geht lächelnd vorüber, gibt ihm aber nichts. Er dreht sich wieder zu mir und betrachtet still mein Tun. Dann stellt er eine Frage, die ich in meinem Leben nicht mehr vergessen werde: „Fährt dich denn dein Drahteselchen auch gut und sicher?“ Mein Zweirad aus dem VEB Elite Diamant in Chemnitz. Es wird nur noch von Rost und Sentimentalität zusammengehalten, bringt mich aber getreulich von A nach B und wieder zurück.
Ich glaube, als erstes ist ihm das kaputte Rücklicht aufgefallen und daraufhin hat er das ganze müde und beladene Fahrrad in Augenschein genommen. Das dienstliche Treffen war nett, auch weil wir 100 spendierte Euro auf den Kopf hauen konnten. Aber vorm Einschlafen habe ich die melodische und zärtliche Stimme des Zausels in den Ohren. Beim Aufwachen auch.
Katrin Schings
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen