: Zwischen Turbokapitalismus und Turbofolk
SERBISCHES KINO Geschichte spricht: Das Zeughauskino zeigt den ganzen Monat Mai hindurch eine großangelegte Werkschau des jungen serbischen Filmschaffens: Von zerplatzenden Träumen vom besseren Leben, Krieg und Melancholie
Jeden Abend wartete der Filmvorführer auf seinen Hausherrn, Tito. Nach dem Essen, um 2 Uhr morgens, ließ sich der jugoslawische Staatschef im Kinozimmer seiner Villa die neuesten Produktionen aus aller Welt zeigen. Tito war leidenschaftlicher Filmliebhaber und -förderer: Das Belgrader Avala-Filmstudio sowie die gesamte jugoslawische Filmindustrie war in den Sechzigern international bekannt, hier wurden Hollywoodfilme produziert und Stars wie Richard Burton für Partisanenfilme engagiert. Aber auch die dissidente Filmszene blüte auf. Insbesondere serbische Regisseure entwickelten eine eigenständige Handschrift: Nach den bombastischen und propagandistischen „Partisanen-Western“ schuf die sogenannte Generation der „Schwarzen Welle“ eine düster-satirische, in überdrehten Parabeln von den gesellschaftlichen Konflikten erzählende Ästhetik, die später von der sogenannten „Prager Schule“ weiterentwickelt wurde. Heute ist das Avala-Studio ein brachliegendes Gelände. Mila Turajlic’ Dokumentarfilm „Cinema Komunisto“ (2010) erzählt – wenn auch sehr pathetisch – von der großen Zeit des jugoslawischen Kinos unter Tito.
Zu sehen ist der Film im Zeughauskino, dass den ganzen Monat lang mit 19 Filmen eine umfangreiche Schau des zeitgenössischen serbischen Kinos bietet. Angesichts mangelnden Geldes und der Größe des Landes ist die Anzahl von etwa 15 serbischen Filmproduktionen jährlich beeindruckend. Und wie die Schau im Zeughauskino beweist, sind es bei weitem keine Trash- oder Low-Budget-Produktionen.
Gezeigt werden hier zwar auch die jüngsten Werke der Altmeister wie der Prager Schüler Goran Paskaljevic („Honeymoons“, 2009, die erste albanisch-serbische Koproduktion) oder Emir Kusturica (Versprich es mir!“, 2005). Aber der Fokus liegt auf den jungen Regisseuren. „Ich brauche einen Neuanfang“, sagt die junge Anica, die plant ihren Geliebten, einen depressiven Gangsterboss, auszurauben und in ein anderes Land abzuhauen. „Ich auch“, antwortet ihre demente Großmutter in Stefan Arsenijevic’ „Liebe und andere Verbrechen“ (2008).
Einen Neuanfang des serbischen Films hat es nach dem Ende der Ära Milosevic tatsächlich gegeben. Arsenijevic gehört zu dieser Generation, die weniger auf die opulent überdrehten Komödien, sondern eher melancholisch und in vielen Grautönen von der Lethargie, den sozialen Antagonismen, den zerplatzenden Träumen vom besseren Leben im Ausland, von der individuellen Verarbeitung des Systemwechsels, Krieg, Turbokapitalismus und Turbofolk erzählen. So wie Arsenijevic sind auch Srdan Golubovic’ „Die Falle“ und Srdan Koljevic’ „Belgrad Radio Taxi“ am europäischem Autorenkino geschulte Psychodramen, während Nikola Lezaic’ „Tilva Rosh“ im Stil amerikanischer Independents die perspektivlose Provinzjugend anhand einer Skaterclique porträtiert.
Es gibt eben nicht mehr die eine Handschrift, sondern viele verschiedene, wie der Filmkurator Bernd Buder betont, der mit dem Film Center Serbia am Programm des Zeughauskinos beteiligt war. Trotzdem ist die große Tradition der absurd überdrehten, tiefschwarzen Alltagsgeschichten, in denen die Dialoge und mehr noch die entwaffnenden Aphorismen der Protagonisten und die surreal barocke Bildästhetik überwältigt, nicht verschwunden.
Srdjan Dragojevic’ großartiger Roadmovie über Homophobie „Parada“ (2011), der den Publikumspreis der diesjährigen Berlinale gewann, ist ein Beispiel dafür. Zwar ist „Parada“ nicht zu sehen, dafür aber „Auf Wiedersehen, wie geht es Ihnen?“ (2009) von Boris Mitic. Eine fantastische Parabel über die Paradoxie der serbischen Gesellschaft – die offiziell in Demokratie und florierender Marktwirtschaft lebt und real durch Mafiawirtschaft, Nationalismus und Nepotismus ökonomisch und geistig verarmt: Zu Bildern von Zebrastreifen, die nur bis zur Hälfte der Straße reichen oder einem Kiosk mit Whiskey-Flaschen über denen orthodoxe Ikonen hängen, lässt ein Erzähler sein Leben in eben jenen berühmten, abgeklärten Aphorismen Revue passieren: „Die Regierung, die Polizei, die Politiker, heute sind sie alle auf unserer Seite. Nur wir sind auf der anderen.“ DORIS AKRAP
■ „Kinematografie heute: Serbien“, im Zeughauskino, bis 30. Mai, www.dhm.de/kino