piwik no script img

Fehlam­platzigkeit

Tine Melzers programmatischer Debütroman „Alpha Bravo Charlie“

Von Thomas Schaefer

Am Ende ist gar nicht die Liebe, sondern die Abweichung das Thema No. 1 der deutschsprachigen Literatur? Zumindest verfügt die, von frühen Schelmenromanen bis zu Wilhelm Genazinos überforderten Straßenstreunern, über eine große Zahl von renitenten Außenseitern und verschrobenen Sonderlingen – ein Wort, das sich nicht gendern lässt. Warum solche Unanpassbaren grundsätzlich Männer sind und ihre spezielle Form von Bockigkeit oder Marginalisierung bei Frauen nicht vorzukommen scheint, wäre eine eigene Überlegung wert.

Dass Frauen durchaus in der Lage sind, sich in derlei Typen hineinzuversetzen, hat etwa Annette Pehnt bewiesen, mit der unvergesslichen Figur Dorst in ihrem Debüt „Ich muss los“. An ihn erinnert ein schmaler Erstling: Die 1978 geborene Tine Melzer präsentiert in „Alpha Bravo Charlie“ einen wunderlichen Mann, der in gewisser Weise nicht mehr los darf: Johann Trost ist einer, der eher des Trostes bedarf, als über ihn zu verfügen. Er war Pilot, ist von seiner Frau getrennt und nun auch Rentner. Nicht nur weiß er wenig mit sich anzufangen, vielmehr hat er die Sicherheit eingebüßt, die ihm das Cockpit gestiftet hat. Dort ging er seiner Arbeit nach, ohne sich den Zumutungen der Nähe zu Menschen aussetzen zu müssen. Die Abgründe des Alltags lagen tief unter ihm: „Seit ich nicht mehr fliege, fehlt mir die Übersicht.“ Da erscheint es sinnreich, dass er sich eine Modelleisenbahn zulegt, die ihm die Welt handhabbar erscheinen lässt, ein Trick, der nicht dauerhaft funktioniert. Wie ihm die Modellbahn so etwas wie einen Freund zuführt, wäre in etwa die Handlung des Buches. Melzer folgt ihrem Helden über einen einzigen Tag: Von „Neun Uhr siebzehn“ bis „Einundzwanzig Uhr fünfzig“ berichtet Trost, was ihm durch den unruhigen, zwangsneurotisch veranlagten Kopf treibt. Seine Gedankenströme geben dem Buch den Charakter eines Ideen-Romans, und das ist das Problem.

Die Gefahr der Sonderling-Figuren liegt ja darin, dass sie programmatische Funktionen zu erfüllen haben: als Gegenmodelle zu der reibungslosen Weise, in der die Gesellschaft der „Normalen“ funktioniert. Das verführt zum Sentenzhaften. In Melzers Roman ist es sogar das konstituierende Element, etwa wenn der Ich-Erzähler sich darstellt: „Ans Fenster geklemmt, hoffe ich auf die Müdigkeit der anderen und darauf, nicht erkannt zu werden.“ Beziehungsweise seine Maximen auf den Punkt bringt: „Ich kann nicht ausstehen: grundlose Zeitverschwendung, nervöse Stimmen, schlechtbesuchte Konzerte, lästige Sitznachbarn, bedrängende Vorurteile, ungenaue Wortwahl und alle, die mitspielen“, heißt es auf Seite 19, und spätestens dann wissen wir, mit was für einem wir es zu tun haben. Überdeutlich dokumentiert dieser Protagonist, welche Rolle seine Schöpferin ihm zugedacht hat. Trost und wie er seine „Fehlamplatzigkeit“ in der Welt sieht: das wird zu sehr verlautbart und zu wenig erzählt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen