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Archiv-Artikel

Freigelegte kreative Potenziale

LEBENSQUALITÄT Mit „Kunst trotz(t) Demenz“ greift die Kulturkirche ein wichtiges gesellschaftliches Thema auf und plädiert für eine andere Sicht auf Alzheimer & Co

Eines Nachts, nach seiner Erkrankung, setzte sich Warns plötzlich im Bett auf und rief: „Ich will Freiheit beim Malen!“

Von Henning Bleyl

Das Häkeldeckchen ist mit Wachs überzogen, ebenso der Würfelzucker. Bernd Brach legt dicke, aber transparente Hautschichten über die Dinge – es sind Erinnerungsstücke an seine Eltern. Herbert Zangs wiederum, ein Wegbegleiter von Joseph Beuys, malt „Rollstuhlbilder“: großflächige Werke, die beispielsweise weiße Fußabdrücke auf einer langen Papierrolle zeigen. Über 100 Kunstwerke von 34 KünstlerInnen, die sich als direkt oder indirekt Betroffene mit dem Thema Demenz auseinandergesetzt haben, sind derzeit unter dem Titel „Kunst trotz(t) Demenz“ in der Kulturkirche St. Stephani ausgestellt.

In Deutschland sind derzeit rund 1,1 Millionen Menschen von Demenz betroffen, bis 2050 sollen es über 2,5 Millionen sein. Aber: „Demenz ist nicht gleich Demenz, sondern verläuft in ganz unterschiedlichen Bahnen“, betont Uwe Mletzko vom Verein für Innere Mission, die die Ausstellung in Bremen mitsamt eines sehr beachtlichen Begleitprogramms organisiert hat.

„Das Zurücktreten der alten Persönlichkeit eines Menschen“ dürfe nicht pauschal „mit dem Verlust von Lebensqualität gleichgesetzt“ werden, sagt auch Michael Hagedorn. Als Fotograf hat Hagedorn zahlreiche demente Mensch besucht, seine in Bremen gezeigten Fotos demonstrieren eindrucksvoll, welchen durchaus auch glücklichen Situationen er dabei offenbar begegnet ist. Da ist der alte Mann, der träumerisch versunken auf eine Modelleisenbahn schaut. Oder die zufrieden im Gras liegende Frau, die ein Kaninchen beim Mümmeln betrachtet. „Wenn die mit unserer Leistungsgesellschaft verbundene Last von ihnen abfallen durfte, blühen manche Menschen regelrecht auf“, sagt Hagedorn. Ein sehr häufiges Problem bestehe allerdings darin, dass sich Angehörige mit der Pflege regelmäßig selbst überforderten: Etwa 90 Prozent der Dementen werden zu Hause gepflegt, ohne dass die Angehörigen ausreichend auf Entlastungsangebote zurückgreifen.

„Künstlerisch orientierte Aktivitäten sind keineswegs Luxus-Beschäftigungsangebote“, betont Kim de Groote vom Remscheider Institut für Bildung und Kultur (IBK). Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat sie Anfang des Jahres zusammen mit Flavia Neubauer ein Handbuch herausgebracht, das sich erstmals systematisch mit den zunehmenden künstlerisch-kulturellen Aktivitäten von Dementen befasst. De Groote sieht die Potenziale von Kunst in diesem Kontext auch in ihrer Funktion als Türöffner: Angehörige und Öffentlichkeit nehmen Demente nicht „durch die Defizitbrillle“ wahr, sondern können sie als emotional und kreativ potente Personen erleben.

Der Kurator der Bremer Ausstellung, Andreas Pitz, plädiert ebenfalls für eine konstruktive Sicht auf Demenz: Statt die Krankheit als „Endstadium“ zu begreifen, sei es sinnvoller, die in ihr vorhandenen „Entwicklungsspielräume“ zu erschließen. Paradebeispiel für eine solche Potenzial-orientierte Perspektive ist der Maler Willem de Kooning, einer der renommiertesten Vertreter des Abstrakten Expressionismus: De Kooning entwickelte während seiner schweren Demenz einen völlig neuen Malstil, als „Late Paintings“ sorgten diese Werke für viel Furore in der internationalen Kunstszene.

Weniger bekannt ist Eberhard Warns, dessen Werke in der Bremer Ausstellung aber eine große Rolle spielen. Warns begann erst als Dementer, ernsthaft künstlerisch zu arbeiten, zuvor hatte er lediglich Urlaubs-Aquarelle angefertigt. Nach seiner Erkrankung habe sich Warns eines Nachts plötzlich im Bett aufgesetzt, erzählt Pitz, und laut gerufen: „Ich will Freiheit beim Malen!“ Das Ergebnis sind sehr farbintensive, abstrakte Gemälde, deren äußerliche Dimensionen bis zu Warns Tod 2007 immer größer wurden. In Bremen wurde ein besonders eindrucksvolles Hochformat in Schwarzrot zum Plakatmotiv der Ausstellung. Es hat schon derart viele Besucher angelockt, dass die Ausstellung „Kunst trotz(t) Demenz“ zu einer am besten besuchten in der bisherigen Kulturkirchen-Arbeit geworden ist.

„Kunst trotz(t) Demenz“: noch bis 30. Mai in St. Stephani. Am Sonntag um 11.30 Uhr gibt es eine Führung