: Im Wirbel der Zeichen
Etwas Wildes und etwas Glamouröses prägte das Gastspiel des französischen Choreografen Emanuel Gat im Haus der Berliner Festspiele
Von Katrin Bettina Müller
Schau ihn dir an. Die Brust hochgeschürzt über einem engen Mieder, mit dichtem, spitzen Bart und Faun-Hörnchen auf den kahlen Schädel gezeichnet, die muskulösen Arme tätowiert – und doch sind die Bewegungen von Gilad Jerusalmy in diesem Moment weich und tändelnd, Schlangenlinien durchlaufen Wirbelsäule und Arme. Oder ihn, Robert Bridger, die blonden Haare wie ein Mönch geschnitten, die Glieder lang und schmal, die Haut weiß, trägt er, über der engen Hose eine Schürze mit gerüschten Rändern. Sara Wilhelmsson tritt auf in einer glänzenden gelben Toga, kurz heftet sich antikes Drama an ihre Gesten, bis sie über die ganze Bühne zu rennen beginnt. Der nächste wird umflattert von den Ärmeln und Schößen umgebundener Jacken, die sich weit auffächern in den wirbelnden Drehungen und ihm etwas von einem Derwisch geben.
Nein, dies war nicht die Fashion Week und kein queeres Event auf dem Catwalk. Und doch war es ein nicht zuletzt durch die Kostüme von Thomas Bradley großartiges Tanzgastspiel im Haus der Berliner Festspiele. Die in Frankreich beheimatete Compagnie Emanuel Gat Dance zeigte „Lovetrain 2020“. Programmiert nur für einen Abend, den Samstag, wurde, als die Karten der 19.30-Uhr-Vorstellung schnell ausverkauft waren, für 22 Uhr eine Late Show angesetzt. Da die Choreografie sich um 13 Songs des britischen Synthie-Pop-Duos Tears for Fears rankt, schien auch das eine passende Zeit. Trotzdem schade, dass es keine weiteren Aufführungen gibt. Große Compagnien von einem so guten und bekannten Choreografen wie Emanuel Gat gibt es in Berlin nach wie vor viel zu selten zu sehen.
Die Musik aus den 1980er Jahren – dabei ist „Mad World“, „Shout“, „Sowing the Seeds of Love“ – schlägt einen Zeithorizont auf, das Chiaroscuro im Licht einen anderen. Das Hinübertanzen von beleuchteten Zonen ins Dunkle, die Wolken aus hellem Nebel, die schmalen Lichtfenster im Hintergrund transportieren eine Atmosphäre von barocken Gemälden, zu dem die Kostüme der fünf Tänzerinnen und acht Tänzer auch wiederum viele Entsprechungen liefern. Mehr aber noch ihre Gesten und die von Zeit zu Zeit angehaltenen Bilder: Dann sieht man einen Moment lang wie eingefroren zwei oder drei Gruppen, die Figuren mit Blicken oder Berührungen einander zugewandt, ein Ausschnitt aus einer komplexen Situation.
Wie sich Paare bilden, Gruppen von drei, vier oder fünf zueinanderfinden, ein Stück des Weges miteinander gehen, sich wieder auflösen und neue Konstellationen entstehen: Das in den Choreografien von Emanuel Gat zu beobachten, hat seine Stücke auch früher schon spannend gemacht. Bewegungsmuster werden beobachtet, variiert, weitergegeben, geteilt und verlassen. Dadurch erhalten seine Stücke bei aller Abstraktion etwas sehr Lebendiges, nahe den unterschiedlichsten sozialen Prozessen.
„Lovetrain 2020“ entstand in der Coronazeit und lässt sich auch verstehen als eine Ermutigung der Tänzerinnen und Tänzer untereinander, bei ihrer Kunst zu bleiben. Es ist aber mehr als eine Partystimmung, die das Stück trägt. Songs und Bewegungen sind nicht einfach miteinander verschmolzen, im Gegenteil: Sie entwickeln oft unabhängig voneinander ihre Höhepunkte. Oft entfalten sich die Körper in der Stille, Szenen lappen über das Ende eines Songs hinaus, selten lehnt sich der Tanz einfach nur an die Musik an.
Und so wie die flüssigen und weichen Bewegungen manchmal abrupt stoppen und dann die Richtung wechselnd weiterfließen, so verändern sich auch die Stimmungen, die man mit den Szenen verbindet auf einer Ebene, die noch nicht narrativ ist, aber schon viele Elemente davon enthält.
Thomas Bradley, der die zitatenreichen Kostüme entworfen hat, ist selbst auch Choreograf und ein Tänzer der Compagnie. In einem Solo arbeitet er mit einigen Gesten, die von Ferne an die Posen von Body Buildern erinnern. Auch mit dem Blau seiner Schürze trägt er etwas Proletarisches in die Szenerie, das dann aber wieder gebrochen wird. So entwickeln die Ensemble-Mitglieder immer wieder Figuren, die schon in sich eine wilde Geschichte zu bergen scheinen.
Die Texte der Songs ziehen eine weitere Bedeutungsschicht ein. „And I find it kind of funny/ I find it kind of sad/ The dreams in which I'm dying are the best I've ever had“, heißt es in „Mad World“. Gegen diese Momente von Melancholie und Trauer, die in der Gegenwart viele Entsprechungen finden, erhält der Tanz auch etwas von einem Trotzdem.
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