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Kulturtechnik auf dem RückzugNicht mehr witzig

Wir schreiben das Jahr 2038. Wegen Lehrermangel verstehen Kinder keine Ironie mehr. Damit stirbt sie aus.

Haha – gelacht wird in der Zukunft weniger Foto: Marco Rubino/PantherMedia/imago

W ir schreiben das Jahr 2038. Die Ironie ist weiter auf dem Rückzug. Ging die Lehrmeinung im vorigen Jahrhundert noch davon aus, dass Kinder ab etwa zehn Jahren Ironie verstehen können, stieg das Einstiegsalter um 2020 herum bereits auf Mitte dreißig, und ist jetzt bei Mitte fünfzig angelangt: Die Ironie stirbt aus, und mit ihr auch der Humor als herzensbildende Kulturtechnik.

„Ich versteh die Kiddies ja“, sagt meine jung gebliebene Hausnymphe Apocalypso. „Wozu etwas brechen, das schon stimmt, und hinterher womöglich falsch wieder zusammensetzen?“ Erst denke ich, dass sie Recht hat, aber dann: Ist das nicht eigentlich Zweck der Übung?

Doch obwohl der Humor tot ist, wird trotzdem mehr gelacht als früher. Man lacht nun eben über alles und vor allem nichts. Am lustigsten findet man Dinge, die schlicht sind, wie sie sind. Deshalb gibt es statt Comedy heute Realedy, das verstehen die Leute. Am Einlass zum Realedy-­Theater werden Taschentücher, Herzmedikamente und Tilidin verteilt, denn „es könnte richtig wehtun“ – so lautet zumindest das Versprechen der Verantwortlichen.

Erst werden die Nachrichten verlesen, danach der Wetterbericht: „Ein Azorenhoch sorgt für Zufuhr frischer Meeresluft …“, alles eins zu eins. Das Publikum lacht sich scheckig. Doch es kommt noch besser: Der ­Realedian, ein alter weißer Mann, schiebt „Dieter“ auf die Bühne, ein bleiches Skelett, mit Truckermütze und in Chucks, das für den sehr ­alten, sehr weißen Mann steht. In Bauchrednertechnik lässt der Künstler Dieter sagen: „Salzstreuer:innen, höhö, „Sinti & Roma“-Soße, haha, Woko Haram, huhu, ich ändere meinen Geschlechtseintrag und geh in die Frauenumkleidekabine, hihihi …“

Triggerpunkt getroffen

Eine Mitmachnummer, denn nach jedem Satz des Gerippes ruft das wunderbar diverse Publikum im Chor: „Ok, Boomer!“ High five, High ten, High twenty. Lachanfälle, Ohnmacht, Sanitäter. Was für ein angenehmer Grusel.

Der Realedian spielt hier übrigens auf Bewährung. In einem Interview hatte er nämlich ausgeplaudert, er habe nur -0,8 Dioptrien, und trüge seine Brille aus rein modischen Gründen. Die wirklich Kurzsichtigen hat das natürlich extrem getriggert. Er musste sich vor der Myopisten-Community entschuldigen und tausendmal den Satz schreiben: „Disability appropriation ist Kackscheiße!“ Mit Kreide. Auf einer Tafel. In Schönschrift.

Und dabei hat er sogar Glück, dass sich die Wogen zurzeit langsam wieder glätten: 2033 hätten sie ihm dafür noch je ein Hakenkreuz auf beide Arschbacken gebrannt, und das wär’s dann für ihn gewesen mit der Realedy, ein für alle Mal.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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1 Kommentar

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  • Humor ist in Deutschland weitestgehend seit 1933 tot, ebenso die Kunst. Die deutsche Bildungspolitik hat es bis heute nicht verstanden, dem seitdem verbreiteten Stumpfsinn ein Ende zu bereiten. Woran man deutschen Humor noch ganz erkennt? An Texten des Malle- und Apres-Ski-Liedguts. Das ist auf dem Leves des Humors der NS-Zeit.