kritisch gesehen: Erfolgspodcast mit ältlicher Ästhetik
Jetzt ist also die letzte Folge ausgeliefert, die erwartete Leiche aufgetaucht. Und auch wenn die Lösung auf der Hand liegt, das wenig überraschende Verbrechen muss als Cliffhanger der Folge 24 von „Lost in Neulich – kein Dorf für Anfänger“ herhalten. Die erste ARD-Audiothek-Originalserie endet mit dem unbedingten Willen zur zweiten Staffel.
Warum Radio Bremen und seine Kooperationspartner diese Hörspielserie, die sich dadurch auszeichnet, nicht zunächst im linearen Radio gelaufen zu sein, im Wochenrhythmus gestaffelt und alle knapp 20-minütigen Folgen nicht sofort zum Binge-Hören freigeschaltet haben, ist vielleicht die spannendste Frage, die von der Produktion aufgeworfen wird. Und ehrlich gesagt: Wirklich spannend ist auch sie nicht. „Die Frage der Veröffentlichungsstrategie ist immer abhängig vom Podcast“, heißt es seitens der kleinsten Landesrundfunkanstalt auf die pflichtbewusste Anfrage.
Lead-Autorin von „Lost in Neulich“ ist Katja Tielcke, die bisher vor allem Krimis verfasst hat, von denen einer laut Kriminetznutzer*innen-Rezension „sehr amüsant geschrieben“ ist. Um Amüsement bemüht haben sie und ihr Co-Autor Jan Hass sich auch bei der Geschichte, die sie, mutmaßlich nach intensiver Lektüre von Juli Zehs großem Roman „Unterleuten,“ für die Audiothek konzipiert haben. Wie „Unterleuten“ ist „Neulich“ der toponomastisch wenig überzeugende Name eines fiktiven Orts auf dem Land, in den Familie Breuer zieht: Vier Stunden ÖPNV von Hamburg weg ist die präziseste geografische Angabe. Sandra Breuer, Mutter einer fünfköpfigen Familie ist dort aufgewachsen und hat nun von ihrem Arbeitgeber, dem E-Autobatterien-Hersteller Ökovest, den Auftrag, das Terrain für eine Großinvestition zu bereiten. Gegen die regt sich bei der Dorfbevölkerung Unmut.
Die Kinder bekommen je nach Alter Liebeskummer, ihr Coming-out als trans* Person und einen Nierendefekt zugewiesen. Der Vater ist Musiker und eifersüchtig auf die Jugendliebe Sandras, und die Oma Breuer hat eine hippieske Vergangenheit mit RAF-Kontakten. Es ist also alles vollgestopft mit Konflikten der westdeutschen Zeitgeschichte. Leider hat die Autorin jede Recherche, die dem Récit Glaubwürdigkeit und den Figuren so etwas wie Charakter verliehen hätte, strikt vermieden. Schade, denn die Qualitäten des Casts hätten mehr erlaubt. Nun muss die hervorragende Teenie-Stimme Ella Lee Teenie-Stanzen absondern und Typhoon Bademsoy als klanggewordenes Klischee vom netten Dönerbudenwirt Raki anbieten. Dass er zugleich Ortsvorsteher ist, soll die Konvention brechen, spielt aber letztlich keine Rolle.
Ja, die Sache war erfolgreich, sehr: 700.000-mal waren Podcastfolgen bis einschließlich 12. Juli wiedergegeben worden. Aber eine gute Nachricht fürs Hörspiel wäre das nur, hätten sich Regisseurin Anja Herrenbrück und das Autor*innenteam was getraut. Aber mit Sound – Löffelklappern und Vogelzwitschern – nur eine realistische Atmo zu schaffen, ist doch sehr 1950er. Und so bringt die Produktion mit dem banalen Plot die Botschaft einer ältlichen Ästhetik unters Volk, deren Motto lautet: keine Experimente, bitte! Benno Schirrmeister
„Lost in Neulich“: 24 Folgen, ARD-Audiothek
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen