piwik no script img

wortwechsel9-Euro-Revolution! Aber nur im Ölsardinenformat?

Viele Le­se­r:in­nen freuen sich über das 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr. Das alte Versprechen der „Teilhabe“ im reichen Land wird endlich wahr – für 3 Monate. Und was dann?

Hauptbahnhof Stuttgart, 14. Juni 2022:Überfüllung im Nahverkehr gehört zum Geschäft, nicht nur in Baden-Württemberg Foto: Hettrich/imago

„Debatte über das 9-Euro-Ticket: Bloß nicht verlängern! Das 9-Euro-Ticket ist reine Geldverschwendung. Niemand steigt auf die Bahn um, die Schnäppchenjäger reisen einfach nur mehr“,

taz vom 12. 7. 22

Der politische Wille zählt

Warum wird das 9-Euro-Ticket nicht beibehalten? Aus Kostengründen? Wenn wirklich der Nahverkehr von vielen Menschen genutzt werden soll, so ist das 9-Euro-Ticket der richtige Weg, wie sich gezeigt hat. Und warum schon wieder den Preis anheben? Reicht es nicht aus, dass alle über die Steuer eh an den Kosten des Nahverkehrs beteiligt sind? Hier könnte mal politisch bewiesen werden, wie ernst die Verkehrswende genommen wird.

Joost von Gatterburg, Karlsruhe

Ein Sommermärchen!

Liebe taz, hallo Frau Hermann, Ihr Text hat mich sehr verstört. Den Begriff „Schnäppchenjäger“ empfand ich als verletzend und diffamierend. Für mich sind die 3 Monate wirklich so etwas wie ein Sommermärchen. Als Mensch, der – offiziell so definiert und emotional auch so empfunden – mit 2 Kindern in Armut lebt, ist das ein Schnuppern nach Freiheit. Ein Gefühl, wie es auf Dauer sein könnte, ein Recht auf Mobilität und Bewegungsfreiheit zu haben. Ausflüge machen zu können, Freunde und Familie besuchen zu können und es meinen Kindern zu ermöglichen, das erste Mal in ihrem Leben das Meer zu sehen. Davon hab ich in der letzten Zeit so viele Geschichten gehört. Und ja, wir reisen mehr, so viel es geht, wir jagen Abenteuer um Abenteuer, weil wir es bald wieder nicht mehr können. Bald sind die 3 Monate ja vorbei, und es kehrt wieder Ruhe ein. Die Armen/die Schnäppchenjäger bleiben wieder in ihrem Dunstkreis, den sie sich leisten können, die Punks sind weg von Sylt (oder bleiben da, weil sie sich die Rückfahrkarte nicht leisten können). Ein eventuelles Klimaticket für 69 Euro können sich Menschen unterhalb der Armutsgrenze wohl schwer leisten. Der Beitrag armer Menschen zum Klimaschutz ist dann wieder Verzicht, anstatt ein Recht auf Teilhabe zu haben. Klimaschutz wurde als einziger Grund im Text für das 9-Euro-Ticket benannt. Meiner Erkenntnis nach ging es dabei aber auch um Entlastung wegen steigender Preise. Den Begriff Schnäpp­chen­jä­ge­r*in empfand ich als abwertend. Warum sind denn so viele Menschen auch abseits des Mobilitätsthemas gezwungen, sich nach günstigen Angeboten umzuschauen? Weil sie schlichtweg nicht die finanziellen Ressourcen haben, die für das Klima und sich selbst gesünderen und faireren Dinge zu kaufen. Weil ich mein nächstes Schnäppchen fürs Wochenende planen muss und mir dadurch die Zeit fehlt zur Selbstreflexion und zum Abstand-zum-Text-gewinnen, ärger ich mich über die Ignoranz dieses Kommentars. Bald haben Sie ja Ihre Züge wieder für sich! Und der Staat spart endlich wieder verschwendetes Geld ein. Um vielleicht noch mehr in die Rüstung investieren zu können. Moderne grüne Politik für die Wohlstandsgesellschaft. Julia Benz, Bochum

Und taz.de schreibt …

Dass da Menschen bahnfahren, die auch bei Aldi einkaufen, wer hätte das gedacht? Es gibt nicht das geringste Bahnkonzept – es gibt Wunderkerzen. Kein echtes Konzept – wie zum Beispiel in der Schweiz.

Hans Jürgen Langmann

Für einkommensschwache Personen ist das 9-Euro-Ticket eine enorme Entlastung. Ich habe letztens einen See im weiteren Umland erkundet, zu dem ich sonst wohl nie gefahren wäre. Das Ticket ist auch ein Segen für den Binnentourismus und überfüllte Züge sind ein Problem, das die Jahre lange Vernachlässigung und der Rückbau des Nahverkehrs und des ÖPNV mit sich bringen. Ganz ehrlich muss ich noch dazu sagen, dass ich einen überfüllten Nahverkehr gewöhnt bin und ich diese Überfüllung ertragen kann, wenn die Preise stimmen. Alfonso Albertus

Ich würde für regionale Begrenzung plädieren. Wozu muss ich mit dem 9-Euro-Ticket nach und in Köln fahren können, wenn ich eigentlich in München lebe? Für derartige Reisen könnte schon mehr bezahlt werden. Terraforma

Mit meinem ÖPNV-Jahresticket für fast 600 Euro komme ich mir ziemlich blöd vor. S-Bahnen und Nahverkehrszüge gnadenlos überfüllt mit einem Publikum, das die ganze Zeit laut in seine Handys schreit, die Füße auf die Sitze legt und keine Maske trägt. Das 9-Euro-Ticket ist ein Corona-Mega-Booster. Pünktlich zwei Wochen nach Beginn des Tickets hatten sich die Infektionszahlen verdoppelt. Mittlerweile mehr als verdreifacht. Wenn man zahlende Fahrgäste vergraulen will, verlängert man das Ticket. Shantivanille

Das Ticket kam vor allem auch denjenigen zugute, die ein Monatsabo im ÖPNV haben. Es ist davon auszugehen, dass Menschen, die bisher nur in ihrer Kommune mit ÖPNV relativ mobil sein konnten, nun vermehrt Fern-Regional-Reisen antreten, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Einen ähnlichen Effekt hatte vor Jahrzehnten das erste Wochenend-Ticket. Louisa

Der Preis der Zeit

Natürlich steigt ein Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit nicht auf 3 Stunden einfache Fahrt ÖPNV um – statt 30 Minuten Autofahrt! – nur, weil das nun 9 Euro kostet. Aber es ist doch super, wenn man seinen Urlaub nun mit der Bahn macht, statt mit dem Flugzeug oder dem Auto.

Rudolf Fissner

Muss Ihnen widersprechen, Frau Herrmann. Das kommt selten vor. Im Bus sitzen viele Leute, die ich von meiner früheren ehrenamtlichen Tätigkeit kenne. Sie können sich die normalen Preise nicht leisten. Sie laufen dann sehr weit in die Stadt. Sind meist Menschen älteren Datums. Am Anfang war ich auch gegen dieses Ticket wegen überfüllter Verkehrsmittel. Jetzt begrüße ich es sehr. Die Zielrichtung sollte geändert werden. Zielführend ist nicht, dass viele Menschen auf den Öffi umsteigen. Zielführend sollte sein, dass jeder ihn nutzen und bezahlen kann, in ganz Deutschland. Frau Flieder

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen