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Kunst ohne Kanon

Alte Meister und junge Wilde: Von der klassischen Moderne über die Conceptual Art bis zur Pictures Generation – der Kunstsommer überschreitet Grenzen

Von Jana Janika Bach

Sprechen wir noch dieselbe Sprache? Angesichts der Weltlage kommt solches beim Gang durch die obere Glashalle von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie Berlin unwillkürlich in den Sinn. Ausbuchstabiert hat die bedeutende Konzeptkünstlerin Barbara Kruger hier indes anderes. Für ihre Schrift-Collage „Bitte lachen / Please cry“, die sich um George Orwells dystopischen Roman „1984“ zentriert, wurde der Boden mit Aphoristischem von James Baldwin, Walter Benjamin oder Social Media bepflastert.

Was plakativ anmutet, sublimiert Krugers Bildsprache. Zum Gruseln ist die Gleichzeitigkeit, Posts von zerschossenen Häusern, Toten gar, in einer Reihe mit Updates von der Pariser Modenschau. Schwer verdauliche Bilderfluten zerlegt die Vertreterin der Pictures Generation seit den 70er Jahren. Ihre Handschrift, derweil zum Label geworden, formuliert im Raum, was einer Theoreme Benjamins entspricht, nach der „jede Äußerung menschlichen Geisteslebens als eine Art der Sprache aufgefasst werden kann“, sich damit neue Fragen erschließen.

Weder richtig abstrakt noch gegenständlich ist das Œuvre des Objektkünstlers und Malers Frank Stella, dafür steckt es ebenfalls voller literarischer Anspielungen. Herman Mel­villes Meister-Prosa „Moby Dick“ pries er zum Beispiel mit einem üppigen Gemäldezyklus. Das Museum Wiesbaden ehrt den nächsten Alexej-von-Jawlensky-Preisträger mit einer Ausstellung ab Juni.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens lehnte die spät berufene schreibmalende Künstlerin Etel Adnan es ab, auf Französisch zu schreiben, ein Solidaritätsakt, sie wollte „in Arabisch malen“. Eine politische Klarheit zeichnete ihr Schaffen und ihren Stil aus, der zwar abstrakt blieb, mit eingezogenen Horizontlinien oder hügelartigen Elementen aber an Landschaften erinnerte, etwa an den Mount Tamalpais nördlich San Franciscos. Jahrzehntelang hatte Adnan auf dessen Silhouette von ihrem Haus in Sausalito geblickt; wie Cézanne die Montagne Sainte-Victoire umkreiste sie dieses emblematische Motiv zeitlebens.

2021 starb die im Libanon geborene Adnan mit 96 Jahren in Paris. Nun setzt das Van Gogh Museum in Amsterdam mit „Colour as Language“ ihre Gemälde mit jenen des niederländischen Malers in Dialog. Trotz einer latent spürbaren Bedrohung strotzen Adnans Farbkompositionen vor sinnlicher Kraft, ähneln darin einem anderen, mediterranen Maler.

Henri Matisse, strikt analytisch in seiner Methodik und zäher Workaholic, verordnete, dass seine arabeskenreichen Schöpfungen frei von Mühsal zu betrachten seien. Ein Widerspruch, der sich in Wohlgefallen auflöste, das Ullens Center for Contemporary Art (UCCA), Pekings spektakulärster Kunstraum, lädt dazu ein, sich ungehemmt an Farben, Emotion und Licht satt zu laben.

In „Rotes Atelier“ von 1911, einem epochalen Werk der Moderne, bildete Matisse seinen Arbeitsraum in Issy-les-Moulineaux vor den Toren von Paris ab. Darauf zu sehen sind drei Skulpturen, eine Keramik und sechs Gemälde, darunter erst kürzlich Entdeckte, die das MoMA in New York zusammengetragen hat, um sie in „Henri Matisse: The Red Studio“ zu präsentieren. Ideal erschien Matisse ein intensives Rot, obwohl sein Atelier weiß gestrichen war. Ab Oktober wird die Schau nach Europa gehen, ins Statens Museum for Kunst in Kopenhagen.

Eine ideale Kunst schwebte Piet Mondrian mit seinemNeoplastizismus vor, dessen Stil er in einem Essay fasste, den die Gruppe De Stijl ab 1920 in ihrem Magazin publizierte. Am Bauhaus wurde darüber diskutiert, er beeinflusste die Konzeptkunst und den Minimalismus. So ist man geneigt zurückzucken: Der Erfinder der Gitterstruktur, auf Quadrat, Rechteck und Primärfarben reduzierte Mondrian malte zudem Windmühlen, Dünen, das Meer. Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel skizziert zum 150. Geburtstag des Niederländers in einer Retrospektive seinen Weg hin zur gegenstandslosen Kunst.

Ob sich ein Werk physisch oder vor dem geistigen Auge zusammensetzt, sei nicht von Relevanz, sich darüber Gedanken zu machen aber schon Kunst. So Lawrence Weiners Credo, der die Conceptual Art quasi erfand. Weiner, der malte, bevor er in der Sprache sein Medium fand, verstand seine Textwerke als Skulpturen. Ikonische Zeilen wie „As Far as the Eye Can See“, die er auf Katalogcover druckte und Galeriewände strich, lassen Raum für beflügelte Fantasie oder sich in der eigenen Beschränktheit zu begreifen.

Während Weiner, der im Süßwarengeschäft seines Vaters in der Bronx ausgeholfen hatte, in Europa berühmt wurde, blieb ihm die Anerkennung in der Heimat lange versagt. Ab August widmet das am Hudson River gelegene Dia:­Be­acon, das weltweit größte Museum für zeitgenössische Kunst, dem Autodidakten, der 2021 im Alter von 96 Jahren starb, eine große Schau.

Allein viermal wurde Weiner zur Documenta eingeladen und die gilt neben der Biennale in Venedig gemeinhin als wichtigste Präsentation für Gegenwartskunst. Doch nachdem ein Bündnis der indonesischen Kuratorengruppe Ruangrupa vorwarf, bei der 15. Ausgabe seien Organisationen eingebunden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützen oder antisemitisch seien, forderten einige inzwischen die Abschaffung des Kunstfestivals. Eine kapitale Anklage, die von der Gruppe indes zurückgewiesen wurde. Ob das Konzept jedoch aufgeht, das für Kassel entwickelt wurde und das auf dem Prinzip des Teilens, des „Lumbung“ aufbaut – einer gemeinschaftlichen Reisscheune als Gegenentwurf zur „Sharing Culture“ –, bleibt abzuwarten.

Skandalfrei wird vermutlich in Mannheim „Urban Nature“ eröffnen, eine begehbare Installation des Kollektivs Rimini Protokoll. Ihr Versprechen: Alle acht Minuten ein anderes Alter-Ego. So wird die Stadt zum Vergrößerungsglas, die in der Rolle eines Gefängniswärters oder einer Anlageberaterin erkundet werden kann.

All jenen, die dem urbanen Dschungel entfliehen möchten, sei ein Abstecher zur neuen Ostfriesland Biennale empfohlen. Ab Juni wird das deutsch-niederländische Kunstfestival die Ems-Dollart-Region inklusive des benachbarten Groningens mit Arbeiten von Conny Maier, Jonathan Meese, Jann Holstein oder Olaf Metzel vor landschaftlich reizvollerer Kulisse als allgemein angenommen bespielen.

Auch Berlin fährt einiges auf. Vor Kurzem ist hier etwa das George Grosz Museum in die ehemalige Tankstelle an der Schöneberger Bülowstraße eingezogen, ein idyllisches Kleinod im brausenden Großstadtlärm. Danach geht es raus aus der City, um Diva like im Liegestuhl am Wasserrondell zwischen Werken von Paul McCarthy oder Nils-Udo im Skulpturenpark Schlossgut Schwante abzuhängen. Es wäre doch schön – und ist ohnehin überfällig: Zeit zum Auftanken.

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