Bernhard Pötter Wir retten die Welt: Hellsehen und Schwarzsehen
Was haben wir immer mitgefiebert, wenn unser Jüngster in der X-,Y- oder Z-Fußballjugend des Friedenauer TSC auflief. Waren sie gut vorbereitet? Hatten sie fleißig trainiert? Genug geschlafen? Wie war die Stimmung im Team? Und dann die Begegnung mit der Wirklichkeit: Wie konnte es zu dieser unglücklichen Niederlage gegen den SC Frohnau im Elfmeterschießen kommen? Und zu diesem grandiosen 3:2-Sieg über Hertha Zehlendorf? Die Wahrheit, lernten wir eine alte Fußballweisheit immer nochmal neu, „die Wahrheit ist auf dem Platz“.
Es gibt also 82 Millionen BundestrainerInnen, wenn der Ball rollt. Bei den aktuellen Tippspielen rund um die neue Bundesregierung und ihre Verpflichtung, die Welt zu retten, sind es immerhin auch ein paar ExpertInnen, die ganz genau erklären können, welche Taktik die Ampel spielen sollte und mit welcher Aufstellung. Und die natürlich schon jetzt wissen, wie es alles einmal gekommen sein wird und wer dann daran Schuld gewesen sein wird und warum denn bloß keiner auf sie gehört haben wird.
So ist ja jedem denkenden Menschen sonnenklar, dass die Grünen in dieser Ampelregierung schon verloren haben. Und dass die FDP wahlweise alles gewonnen hat oder aber ihr Finanzminister Christian Lindner unbedingt scheitern wird. Als erste Frau im Außenministerium und ohne Amtserfahrung muss Annalena Baerbock natürlich enttäuschen. Die Verkehrswende rast selbstverständlich ohne Tempolimit gegen die Wand, weil der zuständige Minister von der FDP kommt. Aus dem Umweltministerium wird nichts, weil es sich jetzt vor allem um Umwelt kümmern soll. Karl Lauterbach kann kein Ministerium führen, das ist ja evident und eine Frau als Innenministerin … meine Herren! Kanzler Olaf Scholz? Bleibt blass, haben wir doch immer schon gewusst.
In der guten alten Zeit, als die ppm-Werte für CO2 noch bei 370 oder so lagen, bekam eine Regierung 100 Tage Schonfrist, ehe sie beurteilt wurde. Heute sind es nicht mal 100 Stunden, bis wir genau wissen, dass von der Ampel nichts zu erwarten ist. Und je kurzfristiger unser Urteil, desto kürzer unsere Erinnerung daran, wie falsch wir mit Prognosen liegen können. Erinnert sich noch jemand daran, dass es von Angela Merkel hieß, „die kann das nicht“? Dass Helmut Kohl als „tumber Tor von Oggersheim“ galt? Vor allem wir JournalistInnen, die alles meinen aber nichts verantworten müssen und morgen einfach das Gegenteil von heute kommentieren können, tun so, als könne man das Land ohne einen Abschluss in MinisterInnenwissenschaft nicht gut regieren. Und als wüssten wir, was morgen gebraucht wird. Gab es nicht schon mal Finanzkrisen, Terroranschläge und Mauerfälle, nach denen das Leben plötzlich ganz anders war? Könnten wir unsere VolksvertreterInnen nicht wenigstens mal anfangen lassen, ihre Arbeit zu machen, ehe wir wissen, dass das so nichts wird?
Wenn es eine Wahrheit gibt, dann liegt sie wohl tatsächlich auf dem Platz. Ein großer Denker hat den deutschen Kickern 1990 bei der WM geraten: „Jetzt gehts raus und spielts Fußball.“ Die Mannschaft wurde dann Weltmeister. Das müssen wir von der Ampel ja nicht gleich verlangen. Halbfinale wäre ja auch ganz schön. Aber dafür müssen sie eben erst mal spielen.
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