Ausgehen und rumstehen von Detlef Kuhlbrodt: Es sind kleine Fehler, die zur Niederlage führen
Ich schlafe ein mit dem Gefühl, morgen sei Samstag, und bemerke erst beim Aufstehen, dass Freitag ist. Freitag ist nicht mehr so attraktiv wie noch vor Kurzem, als ich jeden Freitagnachmittag mit E. in der taz-Kantine Schach gespielt hatte. Seit Omikron will E. aber erst mal abwarten und geht nicht mehr aus dem Haus. Draußen ist es ungemütlich.
Seit ein paar Monaten male ich auf dem Papier gebrauchter Teebeutel, die bei M. in der Küche neben dem Wasserkocher trocknen. Die Farben in meinem alten Tuschkasten gehen zur Neige, ich brauche einen neuen Tuschkasten und auch besseres Papier als rahmende Unterlage für das zarte Teebeutelpapier.
Also ab zu Karstadt. Die Schlange beim Eingang ist moderat. Die angebotenen Tuschkästen von Herlitz und Pelikan erinnern an die iMacs von vor 20 Jahren. Sie haben viel überflüssiges Plastik. Vielleicht hab ich aber auch ein automatisches Ressentiment gegen zeitgenössische Produktgestaltungen.
Auf dem Rückweg kauf ich mir bei Netto-Urbanstraße eine Dose Nudelsuppe. Das Bier hier ist billiger als in den zwei Nettos meiner Gegend, fällt mir auf.
Zu Hause gefällt mir der gekaufte Pelikan-Tuschkasten besser als im Geschäft. Während die Suppe von Sonnen-Bassermann langsam warm wird, gucke ich das sechste Spiel der Schach-WM im Laptop.
Bei der letzten Schach-WM hatte ich noch das Gefühl, der Einzige zu sein, der sich für Schach interessiert. Nun schaue ich das meiste live bei Hikaru, chess.com usw. mit vielen anderen. Und danach noch die „After-Show-Partys“ bei den technoaffinen kanadischen „chessbrah“, die Yasser Seirawan zu Gast haben. Bei chess.com sind teils fünf Leute gleichzeitig im Bild – Magnus Carlsen und sein Herausforderer Ian Nepomniaschtschi, sowie kommentierend Daniel Rensch, Robert Hess und Fabiano Caruana. Ich freu mich immer, wenn die ehemalige Schachweltmeisterin Hou Yifan zu Gast ist.
Immer nur Männer nerven. Judith Polgar, die einzige Frau, die mal unter den besten acht SchachspielerInnen der Welt war, kommentiert auch regelmäßig.
Die sechste Partie wird mit 136 Zügen in fast acht Stunden die längste der Schach-WM-Geschichte gewesen sein. Teils guck ich nebenbei, dann wieder konzentriert. Es ist faszinierend, den beiden zuzugucken, dieser schöne Fluss der Logik, wie sie nach ihren Zügen manchmal hin und her spazieren in ihrem Glaskäfig in Dubai und müder werden; wie sie in Zeitnot geraten … Wie kleine Fehler passieren, die 50 Züge später zur Niederlage von Ian Nepomniaschtschi führen. Erstaunlich.
Am Samstagvormittag checke ich im digitalen Bibliotheksangebot die bisherige WM-Berichterstattung, spiele ein paar Partien, esse Nudelsuppe, kaufe Zigaretten, Kekse und Eis und fahre damit zu M. Wie jeden Samstag. Ich klingle einmal, warte eine Weile, rufe ihn an, niemand da. Warte noch eine Weile mit bösen Vorahnungen und gehe dann wieder.
Vor dem Haus spricht mich ein junger Mann an, sein Kumpel hält sich im Hintergrund. Ob ich hier wohne? Nein. Sie hätten den Eindruck, ich würde hier dealen und das gehe gar nicht, irgendwie so was. Ich bin ein bisschen baff und sage, hey, ich hab hier meinen alten Freund besucht, der war nicht da usw. Er entschuldigt sich irgendwie noch, und ich sage „kein Ding“ und gehe weiter, früher wär ich vielleicht geschmeichelt gewesen.
Zu Haus ruf ich D. an. Sie recherchiert und ruft schnell zurück. M. hatte wieder einen diabetischen Schock und liegt auf der Intensivstation. Zumindest sei er nicht mehr in Lebensgefahr.
Dass es meinem Nerdfreund gelungen ist, die Daten meines kaputten Laptops zu retten, registriere ich am nächsten Tag nur, anstatt mich zu freuen.
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