: Ein Wesen, das Musik atmet
Im Rahmen der Konzertreihe „Outernational“ trat ein stilistisch durchmischtes Ensemble um die ukrainische Sängerin Mariana Sadovska im Radialsystem auf
Von Katharina Granzin
Als das Konzert vorbei ist, öffnet sich in der Wand des Radialsystems auf einmal eine Seitentür, von der man zuvor nicht wusste, dass sie existiert, und unversehens steht man draußen in der Kälte, ohne auch nur den Mantel zugeknöpft zu haben. Natürlich muss das so sein, denn das Wichtigste ist ja, dass wir überhaupt Erlebnisse wie an diesem Abend haben dürfen; dafür nehmen wir derzeit gern in Kauf, aus Kinos und Konzertsälen wie unerwünschte Gäste durch die Notausgänge auf die Straße gescheucht zu werden, sobald der Kulturkonsum vollzogen ist.
Aber ein kleiner Schock ist er dennoch immer wieder, dieser abrupte Übergang von der einen in die andere Welt. Zumal nach einem Konzertabend wie diesem, da man sich fast hätte einbilden können, dass die Musik, die man hörte, selbst Wärme erzeugt. Viele intensive Momente gab es während des Konzerts der Sängerin Mariana Sadovska und eines exquisit besetzten Ensembles von Instrumentalisten.
Outernational, eine „europäische Konzertreihe zur Praxis transtraditioneller Musik“, so die Eigendefinition, hat sich auf die programmatischen Fahnen geschrieben, sehr unterschiedliche Arten von Musik zusammenzubringen, vor allem traditionelle Musikformen aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen zu lösen und in neue Kontexte zu setzen. Zum Konzept gehört es unter anderem, jedem Konzert eine Gesprächsrunde voranzustellen, „Listening Session“ genannt, die das Motto des jeweiligen Konzerts gleichsam gedanklich unterstreichen soll.
An diesem Abend, der unter der Überschrift „Songs of Wounding“ steht, sind der aus Weißrussland stammende Dirigent Vitali Alekseenok, die Choreografin Stephanie Thiersch und der Schlagzeuger Max Andrzejewski zu Gast. Thiersch erzählt von traditionellen Trauergesängen, zu denen sie gearbeitet hat, und Alekseenok spricht über die Bedeutung, die Musik während der Demonstrationen in Weißrussland hatte. Das öffentliche Singen an sich, erklärt er, sei bereits ein politisches Zeichen gewesen, ganz egal, was man singe. Max Andrzejewski, der die Gesprächsrunde mit Schlagzeugsoli auflockert, berichtet von seiner kompositorischen Arbeit an den Liedern, die Mariana Sadovska mitgebracht hat und zu denen er gleichsam eine Art Gegenstimme geschrieben habe, ohne die Lieder selbst anzutasten.
Was damit gemeint ist, hören wir danach im Konzert. Die sehr vielseitige Mariana Sadovska ist vor allem als Sängerin bekannt und hat sich unter anderem ein großes Renommee als musikalisch aktive Musikethnologin erworben. Seit vielen Jahren sammelt sie traditionelle ukrainische Volkslieder, wandelt sie ihrem eigenen Repertoire an und tritt gemeinsam mit MusikerInnen aller möglichen Stilrichtungen auf.
Sadovska steht im Zentrum dieses Berliner Konzerts, ist im Gesamtkonzept aber nur eine Solistin im Ensemble. Denn die musikalische Bandbreite reicht von den elektronisch erzeugten Waberklängen, mit denen die Soundkünstlerin Marta Zapparoli den Abend eröffnet, über Sadovskas eindrucksvollen „weißen“ Gesang (jene in Osteuropa entwickelte Stimmtechnik, mit der der Chor „Les mystères des voix bulgares“ einst auch im Westen bekannt wurde) und das Noise-jazzige Element, das Max Andrzejewksi und der Kontrabassist James Banner hineinbringen, bis hin zu Alter Musik.
Letztere wird repräsentiert von den Geigern David-Maria Gramse und Grégoire Simon, dem Gambisten Liam Byrne und dem Lautenisten Andreas Arend. Es ist also für FreundInnen aller Epochen etwas dabei, und so disparat das musikalische Material auch sein oder scheinen mag, so gehen die akustischen Welten in diesem durchkonzipierten Konzert doch geschmeidig ineinander über. Wenn Sadovska singt, legt das große Ensemble dahinter eine Tonspur aus atmosphärisch geschichteten Einwürfen und musikalischen Echos. Das ist oft sehr schön, doch als noch viel schöner erweisen sich jene Passagen, in denen das Alte-Musik-Quartett ganz unter sich ist; denn die Herren geben Musik von Giovanni Batista Draghi und Samuel Scheidt aus dem 17. Jahrhundert ganz so, als seien sie alle vier zusammen nur ein einziges großes Wesen, aus dem beim Atmen wie nebenbei Musik strömt. Das Publikum dankt mit Mucksmäuschenstille.
Inwieweit die Musik des Abends zu seinem behaupteten Konzept („Songs of Wounding“) passt, bleibt insgesamt übrigens eher offen. Aber Konzepte sind beim Musizieren am Ende ohnehin nicht das Wichtigste.
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