piwik no script img

Über die bizarren Zustände der Welt

„Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen“ in der Kunsthalle Bielefeld

Nicole Eisenman, „Night of the cheer with a spray of bullets“, 2005, Aquarell und Collage auf Papier 32,8 x 43 cm Foto: Kunst­halle Bielefeld

Von Katharina J. Cichosch

Manchmal befindet sie sich mittendrin und bestaunt das Tohuwabohu, das sie doch gerade erst selbst geschaffen hat. Wie die sonderbare Mine, an der Horden nackter Frauen arbeiten und aus deren Schacht ein Wägelchen mit offenbar kostbarem Inhalt fährt, der die Augen seiner Fahrer alienhaft aufleuchten lässt. Und eben im Atelier, das über einem rauschenden Gewässer zu schweben scheint und in dem Zettel, Skizzen, Bildern und Farben gleichberechtigt neben Weltgeschichte und Tagespolitik herumfliegen.

Wer die aktuell womöglich wichtigste zeitgenössische Malerin der USA sehen möchte, muss jetzt die Kunsthalle Bielefeld besuchen. Dort hat „Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen“ die erste Station einer Wanderausstellung bezogen, die danach weiter ins Aargauer Kunsthaus, in die Fondation Vincent van Gogh und ins Kunstmuseum Den Haag ziehen wird. 2018 war die 1965 im französischen Verdun geborene New Yorkerin in Deutschland zuletzt in Baden-Baden in einem großen Format zu sehen, nun also Bielefeld.

Rund 80 Arbeiten von Nicole Eisenman sind in dem eleganten Philip-Johnson-Bau der Kunsthalle auf zwei Etagen untergebracht; ausschließlich zweidimensionale Werke, die aber in jeglicher Ausführung. Großformatige Gemälde und comicartige Sittenbilder in Senf und Ketchup („Ketchup Vs. Mustard“); Druckgrafiken und neue Aquarelle, die sie entgegen ihrer sonstigen Arbeitspraxis nicht im Atelier, sondern im Sommerurlaub am Strand gemalt hat. Schnelle Bilder, deren trockener Humor sofort ins Blut übergeht, und langsame Szenerien, die sich nach dem zweiten, dritten Anschauen erst voll entfalten.

Eisenman ist eine Malerin, die sich grundsätzlich alles erlaubt, nie langweilen will, vor allem wohl sich selbst nicht. Das Leben sei ohnehin so kurz, sagte mir die Künstlerin einmal beim Aufbau ihrer Schau in Baden-Baden, bei der sie ihre neuen bildhauerischen Fähigkeiten präsentierte, man müsse ergo einfach alles probieren, sich nicht zu lange aufhalten.

Bei aller Hierarchielosigkeit für die eigene Bildfindung, dem ständigen Changieren zwischen Hi- und Low-Ästhetiken, ist Eisenman natürlich nebenbei auch eine wahnsinnig potente Malerin, die ihr Publikum regelmäßig staunen macht. Nur um im nächsten Moment wieder eine unspektakuläre Geste oder eine scheinbar plumpe, knollgesichtige Dame aus Schaumstoff in den Raum zu werfen. Fast immer sind ihre Bilder getragen von einer erzählerischen Dringlichkeit, die all die Ausdrucksformen und Inhalte malerisch integriert.

Nun will „Köpfe, Küsse, Kämpfe“ aber nicht allein eine Retrospektive, sondern zugleich auch eine Fortschreibung der modernen Kunst- und Zeitgeschichte anbieten. Das klingt bestechend, denn wer könnte die losen Enden, die uns die hier im Plural formulierten Modernen mitsamt ihren entropisch aufgefächerten Folgeerscheinungen beschert haben, besser einfangen als Nicole Eisenman? So hängen ihre von Pop- wie Subkultur durchdrungenen Bilderwelten nun neben großen Namen wie lokal verwurzelten Kunstschaffenden, die Werke von den beteiligten Häusern und der Künstlerin gemeinsam ausgewählt – großartig zum Beispiel der Niederländer Gerd Arntz mit seinen archetypischen Holzschnitten, die einen noch lange verfolgen.

Es gibt Comics von Lesben-Recruitment-Centern und Klitoris-Inspektorinnen vis-à-vis wimmeliger Druckgrafiken von Ensor; ein (Selbst-)Bildnis als junge Frau vor giftgrünem Horizont über der beengenden Vorstadt schwebend („Invisible Woman“) neben einem Selbstporträt von Paula Modersohn-Becker. Doch wirken Eisenmans Bilder auch auf ihre Vorgänger zurück: Dem Unbehagen – dem dünnen Firnis der Zivilisation –, das in den auseinanderdriftenden Umwälzungsprozessen greifbar wurde, wird ein zusätzliches Brennglas aufgestülpt. Plötzlich erscheint ein August Macke nicht mehr als Inbegriff strotzend-bunter Fröhlichkeit, sondern Vorbote eines heranziehenden Grauens.

Müsste man, in einer freilich erst noch zu erfindenden Quizshow, ihre Malerei einer Therapieform zuordnen, dann lautete die hier sicher auf die Psychoanalyse – Nicole Eisenmans Bilder sind eine Betrachtung der wundersamen, ätzenden, bizarren und grandiosen Zustände der Welt, aus der heraus sie entstehen. Hier warten keine Optimierungsforderungen und kein Werturteil (Zufall, dass Eisenmans Vater, dessen Familie vor den Nazis fliehen musste, als Psychoanalytiker arbeitete?) In der Malerin läuft alles zusammen, vor oder manchmal auch auf dem Bildgrund. Man schaue nur die Biergarten-Wimmelbilder an, die Lithografie „Beer Garden“: wie hier das koordinierte Chaos verschiedenartigster Menschen von der Comicfigur bis zur Neuen-Sachlichkeit-Schönheit, aber ebenso die magisch illuminierten Bäume, nicht zuletzt der eigene Blick ins festgehaltene Bierglas und über seinen Rand hinaus in einem Bild kulminieren.

„Malerei ist grundsätzlich optimistisch“, sagt die Künstlerin im Film, der während der Ausstellung gezeigt wird. Selbst den abgrundtiefen Horror, der uns gleich von der Kante einer Erde hinabzuschubsen droht, federn die Virilität und der Humor der Malerin ein wenig ab. Ihren messerscharfen Blick verwässern sie nicht. Nicole Eisenman ist skeptisch gegenüber Künstlern, die zu genau zu erzählen wissen, wie ihre Bilder entstehen. Tollkühn stürzt sie sich in die atomisierten Elemente und setzte des Versprengte in neuen Erzählungen zusammen.

Bis 9. Januar, Kunsthalle Bielefeld. Katalog (Snoek Verlag, erscheint im Dezember) 39,80 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen