berliner szenen: Hier ist eh 30, du Vollidiot!
Feierabendverkehr. Mit dem Fahrrad schlängele ich mich durch Fußgänger, Autos, auf dem Radweg abgestellte E-Scooter und Roller. Endlich biege ich vom Mehringdamm ab, und der Verkehr wird etwas ruhiger. Ein Mann um die 50 überholt mich. Eine Ledertasche klemmt auf seinem Gepäckträger. Bestimmt ein Lehrer. Ich bin beeindruckt von seinem Mut, so seine Unterlagen zu transportieren – und von seinem Tempo. Er hat schon einen halben Block zwischen uns gebracht, ist fast am Pallasseum angekommen.
Da fährt ein schwarzer BMW aus dem Parkplatz über den Bürgersteig und kommt halb auf dem Fußgänger, halb auf dem Fahrradweg zum Stehen. Der Lehrer muss bremsen.
„Ey, du Wichser!“, brüllt er in Richtung der getönten Scheiben. Ein Vokabular, das ich ihm nicht zugetraut und zu dem ich ihm auch nicht geraten hätte. Drei Jahre Berlin-Kreuzberg haben mich gelehrt: Mit dem Fahrer eines solchen Autos fängt man besser keinen Stress an. Langsam fährt die Scheibe runter. „Was willst du denn? Hier ist Pallasstraße, nicht Zehlendorf!“, pöbelt der Fahrer, der genau so aussieht, wie man ihn sich vorstellt: Nacken ausrasiert, Oberarme austrainiert.
Der Lehrer mit dem eher unakademischen Vokabular ist sichtlich pikiert, aber ihm fällt keine Antwort ein. Wahrscheinlich will er wirklich nach Zehlendorf, denke ich, während ich langsam hinter ihm zum Stehen komme. Der Autofahrer legt nach: „Hier ist eh 30, du Vollidiot!“ – „Aber ich bin gar nicht 30 gefahren!“, schreit der Mann zurück. In seiner Wut kommt er nicht auf die Idee, dass das an seiner Vorfahrt sowieso nichts geändert hätte.
Das Auto fährt an, wir steigen auf unsere Fahrräder. Der Zehlendorfer Lehrer tritt mit neuer Wut und Verve in die Pedale. Vielleicht will er es doch noch auf 30 Kilometer pro Stunde schaffen.
Laura Sophia Jung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen