dvdesk: Von der Unschuld vom Lande zum unheimlichen Racheengel
Es liegt diesem Film eine alte Sage zugrunde, wie der Vorspann berichtet. Klassischer Stoff, auch Grundlage einer der fünf traditionellen Pansori-Geschichten. Die Sage erzählt von einem blinden Vater und seiner aufopferungsvollen Tochter, die ihn pflegt und betreut, bis er sein Augenlicht wiedergewinnt. Die Stimmung ist von Düsternis und Trauer geprägt und hellt sich am Ende erst auf, mit der Genesung des Vaters.
Düster ist in „Scarlet Innocence“ erst einmal wenig bis nichts. Zwar landet der Schriftsteller Hak-kyu (Jung Woo-sung) nur deshalb in der Provinz, weil er an seiner Universität in Seoul wegen MeToo-Vorwürfen suspendiert ist. Doch ist in der Provinzstadt schönster Kirschblütenfrühling. Von den Seniorenstudierenden in seinem Creative-Writing-Volkshochschul-Kurs ist Hak-kyu wenig erbaut, aber es dauert nicht lange, da lernt er die junge Deokee (Esom) kennen, die seine Tochter sein könnte.
Sie lebt noch bei ihrer taubstummen Mutter, jobbt an der Kasse eines abgetakelten Vergnügungsparks, da fällt ihr Blick auf den Dichter. Sie liest seine Bücher und liebt sie. Sie geht in seinen Schreibkurs, verliebt sich auch in den Mann. Er ist trotz Ehefrau und tatsächlicher Tochter in Seoul nur zu bereit zur Affäre, und so abgeschmackt das alles ist: Bis hierhin und noch ein Stück weiter erzählt der Film das als dem Kitsch in weichgezeichneten Bildern nicht abgeneigte Romanze.
Und springt dann aus dem Gleis. Hak-kyu wird rehabilitiert, an den Vorwürfen war nichts dran. Er kehrt nach Seoul zurück, serviert Deokee ab, was noch vor Ort zu einem schrecklichen Unglück führt. Das Haus der Mutter brennt ab, weil die Tochter den Fisch nicht vom Herd nimmt – und die Mutter kommt im Flammeninferno ums Leben. Düster genug, und von hier an wird es noch düstrer. Aber erst einmal Zeitsprung. Weitererzählt wird acht Jahre später. Und wir sind noch nicht einmal bei einem Drittel des Films.
Dies ist geschehen: Die Frau des Dichters begeht Suizid, der Dichter schreibt einen Bestseller nach dem anderen. Und er beginnt zu erblinden. Was dazu führt, dass er in der Nachbarin Se-jung, die sich so scheinbar liebevoll um ihn kümmert, die einst verlassene Deokee nicht erkennt. Damit ist die Konstellation der Sage erreicht, wenngleich in einer komplett verdrehten Variante. Deokee will Rache, und wie es so ist: Sie bringt damit nur einen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt in Gang.
Was folgt, ist eine Wendung nach der anderen. „Scarlet Innocence“ scheint dringend bemüht, das zu tun, wofür das koreanische Kino berühmt ist, oder berüchtigt: nämlich dafür, auf die Regeln der Genres zu pfeifen. Er kippt von der Liebes-Romanze in den Psycho-Horror, nimmt auf dem Weg die eine oder andere Sex-Szene und ein paar Gangsterfilm-Versatzstücke gerne noch mit. Kippt und gleitet also unvermittelt vor und zurück, wirft Plausibilität aus dem Fenster und steigert das Tempo, bremst dann wieder ab.
Bei einem Meister wie Bong Joon-ho („Parasite“) sind diese Achterbahnfahrten sehr gemischter Gefühle das reine Vergnügen. Yim Pil-sung, der sich zuvor schon mit „Hansel & Gretel“ an einer verdrehten Variante des titelgebenden Grimm’schen Märchens versucht hat, ist kein ganz so großer Meister. Darum gibt es zwar reichlich gemischte Gefühle, gibt es durchaus auch perverses Vergnügen, die Darsteller*innen sind exzellent. Vor allem Esom, die sich sehr überzeugend von der Unschuld vom Lande in einen sehr unheimlichen Racheengel verwandelt, ist grandios, hat auch Preise für diese Rolle gewonnen. Und doch: So ganz ohne Schleudertrauma kommt man nach tausendundeinem Umschwung aus der Sache nicht raus. Ekkehard Knörer
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