Inklusion bei der Bundestagswahl: Frei, geheim – und etwas gleicher
Die Bundestagswahl soll in Bremen etwas barrierefreier sein als Wahlen in den vorigen Jahren. Doch für Blinde ist dabei noch nicht an alles gedacht.
Erstmals, das erzählt Landeswahlleiter Andreas Cors am Dienstag, sind alle 4.550 Wahlhelfer*innen Freiwillige. Bisher mussten immer auch noch Mitarbeiter*innen aus dem öffentlichen Dienst herangezogen werden. Auch in anderen Städten gab es teilweise mehr oder andere Freiwillige als sonst.
In den Wahllokalen selbst bekommen die Wahlhelfer*innen eventuell weniger Publikum zu Gesicht als sonst; Es wird damit gerechnet, dass ein viel höherer Anteil per Briefwahl wählt. Nach Erfahrungen aus Kommunal- und Landtagswahlen aus anderen Bundesländern während der Pandemie geht das Landeswahlamt statt von sonst 30 von etwa 60 bis 70 Prozent Briefwähler*innen aus. Das bedeutet rund 150.000 bis 160.000 Stimmzettel per Post. Einen Antrag auf Briefwahl können Bremer*innen auch online stellen.
Mehr Bremer Wahlbüros barrierefrei
Wer lieber vor Ort wählen will, der kann das: mit Maske und im Zweifel mit ein bisschen Wartezeit. Der Weg ins Wahlbüro ist sogar ein wenig leichter als in den letzten Jahren: 97,7 Prozent der Wahllokale in der Stadt Bremen sind barrierefrei. In der Vergangenheit bewegte sich der Wert jeweils ein paar Prozentpunkte darunter. „Natürlich“, so verspricht Cors, werden in den Wahllokalen „auch Hilfen angeboten“ für all jene, die sie benötigen.
Ganz so natürlich ist das gar nicht: Nach der Bürgerschaftswahl 2019 sah sich das Land einer Klage der blinden Schlagersängerin Corinna May gegenüber. Sie hatte Ihre Stimme nicht abgeben können, weil die Wahllokale die nötigen Hilfsmittel nicht vor Ort hatten. Unter anderem fehlte ein CD-Player zum Abspielen der Audio-CD, auf der die Namen der Parteien und Abgeordneten vorgelesen werden. Auch die Schablone, mit deren Hilfe das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht werden soll, war nicht überall vorrätig.
Das Landeswahlamt gelobt Besserung: Alles soll ein bisschen leichter werden, die Audio-CD ist jetzt in einzelne Kapitel zum Überspringen eingeteilt. Und erstmals können die Kandidat*innen auch blindengerecht mit dem Smartphone abgerufen werden. Die Schablone für den Stimmzettel soll, wie auch bisher, über den Blinden- und Sehbehindertenverband an die Betroffenen verschickt werden. Zusätzlich sollen sie aber jetzt auch in den Wahllokalen vorliegen. „Wir werden am Wahltag jedenfalls rumfahren und uns ein bisschen umschauen, ob das stimmt“, kündigt May an.
Das Handling der Schablone für Blinde ist nicht ganz einfach
Bis zum Ende gegangen ist das Landeswahlamt den barrierefreien Weg allerdings nicht. Statt die Schablonen zu nutzen, hätte man die Wahlscheine auch in Braille-Schrift anlegen können. Martina Reicksmann vom Blinden- und Sehbehindertenverband weist allerdings darauf hin, dass viele Sehbehinderte diese gar nicht lesen können.
Die gewählte Lösung hält sie für einigermaßen vernünftig. Auch sie weist aber auf kleine Macken hin: Eine Zahl soll auf der Schablone in Braille-Schrift die richtige Linie fürs Kreuz angeben. Doch wer von dort aus das Loch fürs Kreuz sucht, muss mit dem Finger noch einige Zentimeter nach rechts wandern – im schlimmsten Fall verrutscht man und landet so bei der falschen Partei.
„Ich würde eher von oben runterzählen“, empfiehlt deshalb Reicksmann. Das geht recht leicht für oft gewählte Parteien wie CDU oder Grüne, wird aber schwieriger, wenn Parteien weiter unten auf der Liste, gewählt werden sollen.
Wahlbriefe werden nicht in Braille verschickt
Ein weiteres Versäumnis: Auch in diesem Jahr werden die Wahlbriefe nicht in Braille versandt. Nicht einmal der Betreff oder die Infonummer, unter der Betroffene telefonisch weitere Informationen einholen können, ist in der Punktschrift auf die Briefe eingestanzt. „Behördenpost muss ja auch sonst gelesen werden“, begründet Evelyn Temme, Leiterin der Geschäftsstelle der Wahlleiter, den Wahlbrief nur für Sehende. Sicherlich hätten viele Blinde da bereits eine Lösung für sich gefunden.
Für Mays Ehemann Claus Janz, der sich um ihre Post kümmert, gilt das nicht als Ausrede: „Mittlerweile schicke ich alle Behördenbriefe, die nicht in Braille bei uns ankommen, mit einem Vermerk zurück“, sagt er. In Bremen komme der zweite Brief dann meist auch kurz danach barrierearm in Braille zurück. Dass das für Wahlbriefe nicht Standard ist, findet May „komplett unverständlich“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!