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„Wir leben in einer Suchtgesellschaft“

Wilfried Huck, Oberarzt im Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie, über die Gefahren des Langzeit-Kiffens bei Jugendlichen, die „Uralt-Debatte“ der Cannabis-Legalisierung und darüber, dass die Gründe für den Griff zum Joint oft schon in der Familie entstehen

taz: Herr Huck, es heißt, Cannabis werde immer stärker. Haben wir es tatsächlich mit so genanntem Power-Kraut zu tun, wie es der Spiegel propagierte?

Wilfried Huck: Das trifft nicht zu. Dieses Gen-Gras, das es in Holland verstärkt geben soll, habe ich hier bisher nicht beobachtet. Es fällt aber auf, dass die Dosierung höher ist als noch vor ein paar Jahren. Wir werden es jedoch bestimmt mit stärkerem Cannabis zu tun bekommen, aber das ist auch lokal und regional sehr unterschiedlich.

Haben sich denn die Folgeerscheinungen bei Kiffern mit den Jahren verändert?

Wenn man längerfristig hoch dosiert Cannabis nimmt, besteht die Gefahr psychotischer Dekompensation – vor allem, wenn andere Stoffe das Ganze potenzieren. Traumatisierende Erfahrungen bekommt man damit zunächst gut in den Griff, bis das Ganze kollabiert. 30 bis 50 Prozent unserer Patienten haben heftigste traumatisierende Erlebnisse hinter sich: Mobbing oder sexuelle Gewalt. Auffällig ist auch, dass heute bei vielen Jugendlichen bereits die Eltern Drogenerfahrung haben.

Aus welchen Schichten kommen ihre Patienten?

Querbeet. Zwar haben wir eher Patienten aus der Unter- und Mittelschichten, aber eben nicht nur.

Ab welcher Häufigkeit ist Cannabis-Konsum bedenklich?

Die Phase des Wochenend-Kiffers hat jeder Jugendliche in der Pubertät durchgemacht. Bedenklich wird es, wenn der Konsum über ein Jahr andauert, sich außerdem zunehmend steigert und wahllos mit anderen Stoffen kombiniert wird. Dann kommt es oft zum Leistungsabfall.

Stagniert die soziale und psychische Entwicklung also bei Jugendlichen unter Cannabis?

Die Jugendlichen pendeln zwischen zwei Polen. Die entscheidende Aufgabe ist ja, erwachsen zu werden. Viele haben Angst vor diesem Prozess und wollen im ‚Hotel Mama‘ bleiben. Und andererseits können viele Eltern nicht los lassen. Die Mütter spielen oft zwanzig verschiedene Rollen, um das Kind im System zu halten. Es ist wichtig zu sehen, was eigentlich unter dieser Drogengeschichte liegt: Viele der Patienten sind einerseits sehr kindlich, haben aber andererseits den Wahn, dass ihnen die Erwachsenen nichts mehr zu sagen haben.

Ist der Joint also eine Art Revolution in Zigarettenform?

Nun ja, oft sind es Rebellionsakte. Man muss sich heute in vielfältigster Weise eine Identität basteln. Durch Rebellion kann man sich natürlich wunderbar von dem oft sehr spießigen Lebensweg der Eltern abgrenzen.

Würde eine Legalisierung von Cannabis etwas verändern?

Ach, das ist so eine Uralt-Debatte. Wir leben in einer Suchtgesellschaft, da müssen wir uns nichts vormachen. Diese Entweder-Oder-Diskussion bringt nichts. Was Not tut, ist das offene Gespräch mit Jugendlichen. Wenn Kinder mit ihren Eltern zehn Minuten täglich kommunizieren, aber fünf Stunden fernsehen, dann stimmt etwas nicht.

INTERVIEW: B. R. ROSENKRANZ

Hinweis: WILFRIED HUCK, 57, ist Oberarzt am Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm und Vater zweier erwachsener Kinder

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