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Verzettelte Denker

Der Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter hat eine ungewöhnliche Kulturgeschichte geschrieben: eine des Notizzettels

Hektor Haarkötter: „Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahr­hundert“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 592 Seiten, 28 Euro

Von Marlen Hobrack

Dieser Text sollte mit einem Bonmot beginnen, leider aber habe ich den Zettel, auf dem es notiert steht, verlegt. Damit ist die Kritikerin wohl kein Sonderfall, eher der Normalfall der Notizzettelschreiberin. Denn Notizzettel helfen uns nicht dabei, uns zu erinnern; wir notieren vielmehr, um zu vergessen.

Das ist eine der Thesen, die Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter in seinem Buch „Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert“ entfaltet. Der Notizzettel sei ein unkommunikatives Medium, er habe keinen Adressaten. Ferner sei der Notizzettel ein Kommunikant ohne Kommunikat, eine mitteilende Äußerung ohne Mitteilung also. Haarkötter begreift das Notieren nicht nur als „elementare Form des Schreibens“, sondern auch als Schreibspiel (in Analogie zum Sprachspiel) und hebt damit auf die oft vernachlässigte Differenz zwischen Sprache und Schrift ab.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ist die Rede vom Kommunikanten ohne Kommunikat ein Paukenschlag in Post-it-Form (notiere: schiefes Bild), weil es eine zentrale Weisheit des Fachs in Frage stellt: Paul Watzlawicks Diktum, wonach man nicht nicht kommunizieren könne.

Nun wäre eine kommunikationswissenschaftliche Reflexion des Themas für den interessierten, wiewohl fachlich nicht vorgebildeten Leser vermutlich recht trocken, weswegen Haarkötter seine theoretischen Betrachtungen um Anekdoten von schillernden Figuren wie Robert Walser, Leonardo da Vinci und Francis Bacon gruppiert. Schade übrigens – das nur nebenbei –, dass keine manischen Notizschreiberinnen im Buch vorkommen, allenfalls am Rande taucht die schreibspielende Herta Müller auf. Dafür aber – ausgleichende Gerechtigkeit? – verwendet Haarkötter im Buch das generische Femininum. Bei ihm gibt es nur Leserinnen. Männer dürfen sich mitgemeint fühlen.

Wenn der Notizzettel als unkommunikatives Medium gelten darf – Buch und Autor sind es nicht. Die Kleinheit der zu beschreibenden Form steht im auffälligen Kontrast zum vorliegenden Brocken von Buch. Dieses hat womöglich ein kleines Zielgruppenproblem, weil Haarkötter sich reichlich bei den einschlägigen Klassikern der Medien- und Sprachwissenschaft bedient – was für Medien- und Sprachwissenschaftler aber nichts Neues bietet, während es Fachfremde womöglich überfordert. Laien wie Fachkräfte dürften aber gleichermaßen entzückt sein von den Anekdoten, die Haarkötter ausgräbt. Sein Vorgehen, gut erforschte Verzettler wie Ludwig Wittgenstein und Niklas Luhmann analysetechnisch mit Graffitis an Zügen und Höhlenmalereien zu überblenden, bereitet der Leserin viel Freude.

Wir alle verzetteln uns, umso mehr, als wir uns im Digizän, das das Schreiben und die Handschrift entkoppelt, befinden

Eine Schwäche hat der Text, nämlich seine beinahe manische Redundanz. So peitscht Haarkötter seinen Leserinnen seine Thesen, wonach man aufschreibt, um zu vergessen, wonach nur der schreibt, der Probleme hat, und wonach eben der Notizzettel ein unkommunikatives Medium ist, permanent um die Ohren. Natürlich ist das kein Zu- oder Unfall, natürlich ist das Absicht, aber eben eine ermüdende. Haarkötter, der im Rahmen des Ausflugs in die Graffitikultur auch die Mittel des Rap analysiert, mag hiermit die Methode des Samplings aufgreifen – monoton wie das Original ist sie allemal.

Für die inhaltliche Ebene wäre zu fragen, ob die kursorischen Betrachtungen zur geistigen Verfasstheit seiner Notizzettelschreiber wirklich nötig und aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers auch zulässig sind. Ist die Frage relevant, ob Wittgenstein Asperger hatte oder ob Robert Walser schizophren war? Von der Problematik der Ferndiagnose auf Basis von Fremdbeobachtungen abgesehen, tut das bei der Beantwortung der Frage nach dem Grund für die Zettelwirtschaft nichts zur Sache. Es verstärkt dagegen den Eindruck, dass der verzettelte Denker irgendwie unnormal ist, was Haarkötter ja gerade nicht sagen will.

Wir alle verzetteln uns, umso mehr, als wir uns im Digizän, das das Schreiben und die Handschrift entkoppelt, befinden. Notieren aber ist Denken mit anderen Mitteln. So einfach, so spannend ist Haarkötters Erkenntnis.

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