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Archiv-Artikel

„In diesem System hat jeder Angst, dass er abrutscht“

„Wer am lautesten schreit, wird heute bedient“, sagt Hartmut Rosa. Der Soziologe über den Beschleunigungsdruck der Moderne, den Abschied vom Fortschrittsglauben – und die Taliban als Alternative

Hartmut Rosa

■ Zur Person: Hartmut Rosa, geboren 1965, ist Professor für allgemeine und theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

■ Zur Arbeit: Rosa promovierte über den Philosophen Charles Taylor. 2004 habilitierte er sich mit der Schrift „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“.

INTERVIEW RALPH BOLLMANN

taz: Herr Rosa, wie viele SMS haben Sie heute schon bekommen?

Hartmut Rosa: Das Problem sind die Mails. Die habe ich schon seit Tagen nicht mehr abgerufen. Ich komme einfach nicht mehr nach. Inzwischen schreiben mir manche Leute gar nicht mehr, darüber bin ich ganz froh.

Verweigerung ist Ihre Strategie?

Es ist eine Art von Komplexitätsreduktion. Selbst Führungskräfte müssen sich heute mit dem Lebensgefühl arrangieren, dass sie die Berge auf ihrem Schreibtisch nicht mehr kontrollieren können. Die Rationalitätsstandards sinken, es kommt zu einer neuen Form von Außenleitung: Wer am lautesten schreit, wird bedient.

Wachsende Berge auf dem Schreibtisch sind aber kein neues Phänomen.

Schon, aber es gibt eine kumulative Vermehrung. Neue Kommunikationsmittel kommen hinzu, die alten sterben nicht aus. Der Zeitgewinn durch die Technik wird aufgefressen, weil die Anforderungen noch viel schneller wachsen. Nehmen Sie nur die Wissenschaft. Wir verbringen heute die meiste Zeit damit, Forschungsanträge zu schreiben oder zu begutachten. Wir prüfen Versprechungen, einlösen können wir sie nicht mehr.

Ihre Habilitationsschrift über Beschleunigung war für wissenschaftliche Verhältnisse ein Bestseller. Warum kaufen die Leute eine solche Abhandlung?

Weil sie das Gefühl kennen, die Kontrolle über die eigene Lebensführung zu verlieren. Die heutige Gesellschaft produziert ununterbrochen schuldige Subjekte, anders als bei der katholischen Kirche kann man aber nicht beichten gehen. Habe ich den richtigen Handytarif? Finde ich das beste Pflegeheim für meine Eltern? Sind meine Kinder auf der besten Schule? Es ist unmöglich, das alles zu erfüllen.

Erwarten die Leute eher einen Ratgeber?

Solche Beschwerden bekomme ich kaum. Das Buch habe ich aus Frustration über die gängigen Ratgeber geschrieben. Die Leute denken, Zeit ist ein Naturphänomen. Wenn ich ein Problem damit habe, bin ich selbst daran schuld. So ist es aber nicht. In gewisser Weise helfe ich den Leuten, sich mit dieser Unzulänglichkeit zu arrangieren.

Bietet die aktuelle Wirtschaftskrise eine Chance, aus dieser Beschleunigung auszubrechen?

Wenn Absatzmärkte schrumpfen und Arbeitsplätze bedroht sind, dann erhöht das sogar den Wettbewerbsdruck und darüber den Beschleunigungszwang. Insofern ist die Krise auch keine Lösung. Aber sie ist selbst die Folge einer zeitlichen Entkoppelung. Auf den Finanzmärkten gibt es im Computerzeitalter keine Geschwindigkeitsgrenze mehr. In diesem Tempo können Sie aber nicht produzieren und auch nicht konsumieren.

Warum zielen dann die aktuellen Konjunkturprogramme auf weitere Beschleunigung – durch schnelle Straßen, Bahnlinien oder Internetkabel?

Das ist der Versuch, ins Stocken geratene Prozesse wieder zu dynamisieren. Innerhalb der Systemlogik ist das durchaus sinnvoll, auch wenn es das Kernproblem nicht löst – die atemlose Beschleunigung, die alle Energien aufsaugt.

In der Krise der Dreißigerjahre legte Roosevelt sein Nationalparkprogramm auf, Hitler ließ in Prora ein Seebad bauen. Waren das Initiativen zur Entschleunigung?

In Krisenzeiten muss der Staat das Störpotenzial der Zwangsentschleunigten neutralisieren, daher solche Programme. Auch von ihnen geht allerdings ein ökonomischer Wachstumsimpuls aus, der die Kreisläufe wieder beschleunigt.

Derzeit versuchen die Regierungen, mit neuen Regeln das Tempo auf den Finanzmärkten zu drosseln. Kann das gelingen?

Durchaus. Das beste Beispiel ist die Tobinsteuer, die Transaktionen mit Devisen verteuert. Ähnliche Vorschläge gibt es für Wertpapiere. Das würde die Finanzmärkte verlangsamen.

Nach der Wahl am Sonntag werden viele Weichen neu gestellt, schon wegen der staatlichen Haushaltsnot. Was müsste man tun, um Entschleunigung herbeizuführen?

Wir sollten unbedingt die Idee eines solidarischen Bürgergelds ausprobieren. Man sagt immer: Die Gier treibt die Menschen an. Das ist eine Fehleinschätzung. Es ist die Angst. In diesem atemlosen System hat jeder Angst, dass er abrutscht. Diesen Mechanismus könnte man mit einem Grundeinkommen außer Kraft setzen.

Sie sagen, Beschleunigung ist ein Strukturgesetz der Moderne. Dann ist der Kampf dagegen so sinnlos wie die Maschinenstürmerei im 19. Jahrhundert?

Damals gingen technischer und sozialer Fortschritt noch konform. Das ist heute nicht mehr so. Ich kann Telefontarife wählen, Krankenversicherungen oder Joghurtsorten. Aber dieses blinde Vermehren von Optionen steigert nicht die Lebensqualität. Es überfordert mich. Wir brauchen ein neues Konzept von Fortschritt und gelingendem Leben.

Ursprünglich haben die Progressiven die Beschleunigungslogik der Moderne begrüßt, die Konservativen wollten bremsen. Ist es heute umgekehrt?

Die Rolle der Politik hat sich gewandelt. In der klassischen Moderne war sie der Schrittmacher, man glaubte an den Fortschritt. Heute hinkt sie hinterher, weil die ökonomische Beschleunigung an ihr vorbeigezogen ist. Nehmen Sie nur die Agenda 2010: Sie wurde gerechtfertigt als notwendige Anpassung, nicht mit dem Ideal einer besseren Gesellschaft. Damit verliert Politik ihre visionäre Kraft.

War Politik nicht schon immer reaktiv?

Vermutlich war es eine Illusion, dass Politik der Schrittmacher war. Aber die Menschen haben an diese Illusion geglaubt. Heute trägt diese Selbstbeschreibung nicht mehr. Daraus erklärt sich auch die Politikverdrossenheit.

Schon nach den Reformenttäuschungen der Siebziger haben Soziologen die Steuerungsfähigkeit des Staates angezweifelt. Sind wir erneut an diesem Punkt, einen Reformzyklus später?

Interessant, dass Sie von einem Zyklus reden. Das zeigt, wie sehr das Fortschrittsmodell heute auf dem Rückzug ist. Studenten sagen mir, vielleicht gibt es so einen Zyklus – mal herrscht Demokratie, mal braucht man einen Führer. Das ist eine antike Vorstellung. In der Moderne dachte man, am Ende werden alle Staaten demokratisch sein. Heute sind wir nicht mehr so sicher: Sind Folter und Piraterie Vergangenheit oder sind sie die Zukunft?

Was auch den mauen Verlauf des Wahlkampfs erklärt?

Man erwartet von der Politik nichts mehr. Es gibt eine Komplizenschaft, dass weder Wähler viel von Politikern erwarten noch Politiker von Wählern. Nicht etwa weil Politiker faul und doof wären. Es ist ein strukturelles Problem, für das sie auch nichts können.

Hängt die stille Zufriedenheit mit der großen Koalition auch damit zusammen, dass sie nach den beschleunigten Schröder-Jahren wieder Tempo aus dem politischen Prozess herausgenommen hat?

„Heute sind wir nicht mehr sicher: Sind Folter und Piraterie Vergangenheit oder sind sie die Zukunft?“

Heute glauben viele Leute, dass die Dinge im politischen Bereich nur schlechter werden können. Deshalb finden sie es gut, wenn sich nicht viel bewegt.

Angela Merkel ist die erste deutsche Kanzlerin, die selbst per SMS kommuniziert. Bringt das die Politik auf Augenhöhe mit der ökonomischen Beschleunigung?

Es ist unvermeidbar, aber es führt zu Rationalitätsverlusten wie bei jedem anderen Menschen auch. Zu einem situativen Reagieren auf den jeweils größten Druck, zu Kammerflimmern – hektischen Bewegungen an der Oberfläche, die keine Substanz mehr haben. Eine langfristig orientierte Politik ist auf diese Weise nicht mehr möglich.

In der Zeit vor Merkel dachte man: Die Stärke der wirklich Wichtigen besteht darin, dass sie selbst keine Mails lesen oder SMS verschicken müssen.

Das Handy war die erste moderne Technologie, die sich nicht die Eliten als Erste angeeignet haben. Die Prekarisierten hatten es schon, als sich viele Akademiker darüber noch erhaben wähnten. Sie haben den Boykott aber nicht durchgehalten. Daran sehen Sie die Eigendynamik solcher Technologien. Es ist eine große Täuschung, dass wir souverän damit umgehen könnten.

Können wir diese Beschleunigung stoppen?

Schon, aber der Preis wäre sehr hoch. Die Gesellschaft der Moderne kann nur stabil sein, wenn sie sich beschleunigt. Das unterscheidet sie von allen anderen Zivilisationen der Geschichte. Mit dieser Dynamisierung der Gesellschaft ist auch die Idee der Selbstbestimmung verknüpft. Deshalb ist es kein Zufall, dass bislang nur die Taliban über ein wirksames Entschleunigungsprogramm verfügen.

Dann bleiben wir lieber drin im Rad der Beschleunigung?

Ich will mich nicht damit abfinden, dass die Taliban die einzige Alternative sind. Wir brauchen ein neues Konzept von Lebensqualität, in dem es nicht nur um die Mehrung von Optionen geht. Dann ließe sich ein Projekt entwickeln, das nicht mehr auf dem Boden der Moderne steht, ohne dass wir den Preis einer totalitären Herrschaft zahlen müssen.

Als Individuum könnten Sie aber aussteigen?

Es ist nicht so, dass ich nicht darüber nachdächte. Machen könnte ich es schon, dann wäre ich aber nicht mehr Wissenschaftler. In einem Hamsterrad kann ich nicht langsam laufen, ich kann nur herausspringen.