: Epidemischer Mensch
Mark Honigsbaum erzählt mit teils schaurigen Details die Ursachen und Auswirkungen der Pandemien von Spanischer Grippe bis Covid-19
Von Otto Langels
Camp Devens, ein Ausbildungslager der US-Armee in der Nähe von Boston im Jahr 1917: Zehntausende Rekruten werden dort für ihren Einsatz auf den Schlachtfeldern Europas vorbereitet. Zeitweise füllen mehr als 40.000 Männer das hastig errichtete Lager, in dem drangvolle Enge und miserable hygienische Bedingungen herrschen – günstige Bedingungen für den Ausbruch von Infektionskrankheiten. Zeitweise liegen 6.000 junge Männer in dem für 800 Personen ausgestatteten Lazarett, geschwächt von der Spanische Grippe. Viele verlassen das Camp nicht mehr lebend.
Von der Spanischen Grippe bis zu Covid-19 reicht Mark Honigsbaums „Jahrhundert der Pandemien“, eine lesenswerte Darstellung über die Ursachen und Auswirkungen von Infektionskrankheiten, über den Pioniergeist von Wissenschaftlern und die Grenzen ihres Handelns.
Was der englische Medizinhistoriker an Details über die Spanische Grippe zusammenträgt, erinnert an den Ausbruch von Covid-19 ein Jahrhundert später: Auf einem großen Transportschiff, das im September 1917 Soldaten nach Europa bringt, waten die Menschen durch Blutlachen, die Ärzte sind machtlos. 2.000 Soldaten erkranken, für 80 ist jede Hilfe vergebens, die meisten Leichen werden über Bord geworfen. In Philadelphia sterben in einer Woche 4.500 Menschen, die Toten stapeln sich in den Leichenhallen, schließlich lässt die Stadt Massengräber ausheben. London verzeichnet im Oktober 1918 1.500 Tote pro Tag. In Bombay fordert die Spanische Grippe bis zum Ende des Jahres rund 1 Million Opfer. Schätzungen gehen von bis zu 50 Millionen Toten weltweit aus, fünfmal mehr, als auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ums Leben kommen.
Manche Einzelheiten, die Mark Honigsbaum ausbreitet, sind schwer erträglich, der Autor mutet seinen Leserinnen und Lesern einiges zu. Gleichwohl ist „Das Jahrhundert der Pandemien“ über weite Strecken ein spannend geschriebenes Buch, eine Mischung aus Reportage und Wissenschaftsgeschichte, wobei trockene fachliche Ausführungen bisweilen das Lesevergnügen schmälern.
Mark Honigsbaum: „Das Jahrhundert der Pandemien. Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19“. Aus d. Engl. v. M. Niehaus und S. Warmuth. Piper Verlag, München 2021, 480 S., 24 Euro
Die Spanische Grippe war die folgenschwerste Pandemie des 20. Jahrhunderts, aber sie war nicht die letzte. Es folgten die Pest, die Papageien- und die Legionärskrankheit, Aids, Sars und Ebola. Was bei allen Epidemien zu beobachten ist: Solange es keine effektiven Impfstoffe gibt, verbreiten sich Furcht, Panik und Hysterie. Irrationale und schädliche Urteile untergraben das Vertrauen in medizinische Kenntnisse.
Im Jahr 1924 bricht im mexikanischen Viertel von Los Angeles die Lungenpest aus. Die Gesundheitsbehörden stellen das Viertel unter Quarantäne und riegeln es zwei Wochen lang rigoros ab. Eine diskriminierende, aber effiziente Maßnahme: Fast alle Toten, knapp 50 insgesamt, stammen aus dem Viertel. Damit ist die Pest aber nicht ausgerottet. Bis heute infizieren sich in den USA jährlich mehrere Menschen, ein starkes Antibiotikum verhindert in der Regel jedoch eine ernsthafte Erkrankung.
Mitverantwortlich für den Ausbruch von Epidemien und Pandemien sind Störungen des fragilen Gleichgewichts zwischen Natur und Mensch, Tier und Erreger. Mit dem Vordringen des Menschen in wilde, unberührte Lebensräume, sei es durch Abholzen, Rodung oder Bebauung, wächst das Risiko, dass das Virus vom Tier über den Parasiten und Erreger auf den Menschen überspringt; eine Bedrohung, auf die Mark Honigsbaum immer wieder eindringlich hinweist.
Die Papageienkrankheit, eine um 1930 in den USA ausgebrochene Infektion mit Bakterien, wurde vermutlich von ahnungslosen Passagieren auf Kreuzfahrtschiffen aus Argentinien eingeschleppt. Die Ansteckungskette verlief von Papageien über Pferde bis zum Menschen. Honigsbaum schildert anschaulich das Vorgehen des Feldforschers Karl Friedrich Meyer, der auf der Suche nach dem Gehirn eines infizierten Pferds auf einer Farm in der Nähe von San Francisco auftaucht, die Farmersfrau mit 20 Dollar besticht, um nachts, während der ahnungslose Ehemann schläft, in den Stall zu schleichen, das Pferd zu enthaupten und den Kopf im Kofferraum seines Wagens ins Labor zu bringen.
Als der Mensch das ökologische und biologische Gleichgewicht störte, indem er Papageien in übervolle Container zwängte, um sie in nordamerikanischen und europäischen Tierhandlungen als modisches Accessoire anzubieten, schuf er ideale Bedingungen für die Vermehrung der Bakterien und die Übertragung vom Tier auf den Menschen. Die Papageienkrankheit trat zwar weltweit nur in 800 schweren Fällen auf mit einer Mortalitätsrate von 15 Prozent, aber insgesamt waren 15 Länder betroffen.
In dem Jahrhundert seit der Spanischen Grippe ist die Welt durch übervölkerte Städte, den internationalen Flugverkehr, die steigende Nachfrage nach tierischem Protein und die zunehmende Vernetzung der globalen Märkte anfälliger für Infektionskrankheiten geworden. In diesen 100 Jahren sind Mikrobiologen, Epidemiologen und Präventivmediziner dem Ziel aber nicht nähergekommen vorherzusagen, wann, wo und wie neue pandemische Stämme auftauchen, und sie effektiv zu bekämpfen. Das Einzige, was wirklich sicher sei, so Mark Honigsbaums ernüchterndes Fazit, ist, dass es neue Seuchen und Pandemien geben wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen