: Vom Auftauen eines Mannesgehirns
Unsere Kultur, die in steifen, mechanistischen Vorstellungen festhängt, müsse ein bewegliches, lebendiges Denken lernen, meinte Rudolf Steiner. Es gelte, möglichst „elastisch“ zu bleiben, „schmiegsam“ zu denken. In all dem sah er viel mehr als eine persönliche Übung
Von Wolfgang Müller
Man kann die Geschichte auch so beginnen: Es war einmal ein kleiner Junge, der wuchs quasi auf Bahnstationen auf, zu einer Zeit, als die Eisenbahn noch etwas ganz Modernes war, Telegrafie war der letzte Schrei. Diese Welt der Weichen und Drähte war die Kindheitswelt von Rudolf Steiner (1861–1925). Sein Vater war Vorsteher kleiner Bahnhöfe im alten Österreich-Ungarn. Die Eltern werden stolz gewesen sein, dass ihr begabter Junge es an die Technische Hochschule in Wien schaffte, vielleicht träumten sie von einem zukünftigen Bahningenieur. Aber der Junge büxte aus.
Nachts las er philosophische Bücher, und ein paar Jahre später, das Studium brach er ab, sehen wir ihn in Weimar. Er gibt die naturwissenschaftlichen Werke Goethes heraus und stößt hier auf Gedanken, die ihn ein Leben lang beschäftigen werden. Denn dieser Goethe (1749–1832), in dem alle nur den Autor des „Werther“ und „Faust“ sehen, hatte noch eine ganz andere Seite. Er verstand sich als Naturforscher und hatte ein großes Projekt. Während die Hauptrichtung der damaligen Forschung in die unbelebte Welt ging – Mechanik, Elektrizität, all das, was man für Weichen und Drähte brauchte –, wollte Goethe die Gesetze der lebendigen Welt erforschen. Er war überzeugt, dass man dafür regelrecht umdenken muss, weil alles Lebendige eben nicht nur irgendwie aus Unbelebtem zusammengesetzt ist, sondern eigenen Gesetzen folgt. Deren innere Logik zu verstehen, war der Sinn von Goethes Nachdenken über die „Metamorphose“ und seiner lebenslangen Suche nach der „Urpflanze“, einer in alle realen Pflanzen wandelbaren Grundform.
Dafür wird er bis heute an den Universitäten ausgelacht. Steiner dagegen sah hier einen Forschungsansatz, der weiterzuführen und zu vertiefen war. Goethe habe die starren Begriffe in Bewegung gebracht, er sei „der Kopernikus und Kepler der organischen Welt“. Jedenfalls finde man hier – „mag sein, bei Goethe noch dilettantisch“ – etwas ungeheuer Bedeutsames, das aber unter die Räder kam. Denn unsere Epoche ging gerade nicht in Richtung eines behutsamen, beweglichen Denkens, sondern suchte überall das Eindeutige, das klar Fixierbare, und blendete alles aus, was sich solcher Fixierung entzieht. Womöglich das Wichtigste, das Lebendige?
Im Grunde ist die Anthroposophie nichts anderes als der Versuch, dieser unterdrückten Seite eine Stimme und eine Entwicklungsmöglichkeit zu geben.
Was natürlich schwierig ist. Denn die heutigen Prägungen sind eben ganz andere, bei dem einen mehr, bei der anderen weniger. Steiner meinte tatsächlich, bei Frauen noch etwas mehr „von freier Geistigkeit“ zu finden. Dagegen: „Wer Mann ist, der weiß, was für ein schwieriges Instrument das Mannesgehirn oftmals ist.“ Es sei oft wie eingefroren. „Es muss erst auftauen, wenn es sich in feinere Gedankengänge hineinfinden soll.“ Leider seien die Frauen auf dem besten Weg, ähnlich dumm zu werden. Die Folgerung: Es gelte, möglichst „elastisch“ zu bleiben, „schmiegsam“ zu denken. „Das Wichtigste ist, dass man im Wachstum bleibt“, erklärte Steiner in einem Vortrag vor Jugendlichen kurz vor seinem Tod. „Jeden Tag ist die Gefahr vorhanden, dass die Dinge sauer werden.“
In alldem sah er viel mehr als eine persönliche Übung. Er sah darin eine große, überlebenswichtige kulturelle Aufgabe. Denn genau dieses steife, unbewegliche Denken, „das Schemenmachen“, herrsche ja auch im Großen, bis ins Politische. Steiner sah etwa im Marxismus ein solches Groß-Schema, das kein wirkliches Verständnis für die menschlichen Impulse und Realitäten habe und zwangsläufig scheitern und repressiv werden musste. Aber auch die in anderen politischen Konzepten dominierende Denkweise, der ganze technokratisch-staatliche Politikansatz unserer Epoche, tendiere in diese Richtung: überall der Wahn, die Dinge zentral regeln zu wollen, der Glaube an „Programme“, wenn man so will, ein Denken in Weichen und Drähten. Äußerlich betrachtet ja sogar erfolgreich. „Aber die Wirklichkeit wird dann nicht so, dass Menschen in ihr leben können. Und auf das letztere kommt es an.“
Anthroposophie geht genau in die Gegenrichtung. Sie setzt ein heute völlig ungewohntes Vertrauen in die Menschen und ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation, zu einer freien, solidarischen Gemeinschaftsbildung. Der Staat setzt nur den Rahmen. Dass solche Gedanken heute als weltfremd oder anarchisch gelten, ist wohl auch schon Ausdruck einer Mentalität, die sich Staat und Gesellschaft am liebsten wie ein gut durchorganisiertes Heim vorstellen möchte. Für alles ist gesorgt, man muss sich nur noch in die Abläufe hineinfinden. Es kann Lebensphasen geben, in denen wir über ein solches Heim froh sein werden. Aber insgesamt leben Gesellschaften von Freiheit und von einem Sinn für immer neue Lösungen, jenseits der alten, überlebten Muster. Eigentlich muss die ganze moderne Kultur auftauen.
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