berliner szenen: Blitzschach wie im Paradies
Es ist Samstagmittag, die Angst vor Corona hat nun auch M. erfasst. Statt mich darum zu bitten, ihm Zigaretten mitzubringen, sagt er, er könne mich heute nicht empfangen. Sein Lieblingsbetreuer habe ihn darin bestärkt, die Vorsicht zu erhöhen. Ich bin ein bisschen erstaunt; im Frühjahr schien er noch stolz darauf zu sein, drei schwere Vorerkrankungen zu haben, nun hatte er plötzlich Schiss, auch wenn unsere Treffen nicht besonders risikoreich sind.
Seitdem die taz-Kantine geschlossen ist, sehe ich kaum noch jemanden; in der letzten Woche hatte ich null Kontakte. Abgesehen von den Supermarktbesuchen – aber länger als zehn Minuten steht man ja nie an der Kasse, in gebührender Entfernung. Statt also wie jeden Samstagnachmittag mit M. Schach zu spielen und die Bundesligakonferenz im Radio zu hören, sitze ich zu Hause, höre die Bundesligakonferenz und spiele Online-Chess bei Lichess. Blitzpartien mit fünf oder drei Minuten Bedenkzeit. Oder Bullet, da hat man eine Minute Zeit und kann mit Premoves spielen, Zügen, die auf Züge der Gegner reagieren, bevor sie gezogen haben. Online-Chess boomt auch wegen Corona. Auf dem Lichess-Server spielen gerade 90.000 Leute. Jede Stunde gibt es neue Turniere. Jedes Spiel kann man danach mit dem Computer analysieren. Oder eine Weile trainieren. Das schnelle Klicken bei Bulettpartien klingt wie Tischtennis.
Es ist wie im Paradies und ein bisschen déjà-vu-mäßig. Zuletzt hatte ich vor 40 Jahren so viel Blitzschach gespielt. Schön ist es auch, Schachstreams zu gucken. Mein Lieblingsstreamer ist IM Eric Rosen aus St. Louis, der gerade in einem Blitzturnier spielt. Ich gucke nur zu. Es ist schon Abend. Jemand fragt: „Where shall we go after the tournament?“ Rosen antwortet: „Let’s go to the Petrov-Defense-Blitz-Arena.“
Detlef Kuhlbrodt
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