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Althussers Abrechnung

Staatstheoretisches Duell: In einem kürzlich erstmals publizierten Text setzt sich der Philosoph Louis Althusser mit Antonio Gramsci auseinander – und deutlich von ihm ab

Louis ­Althusser 1978, in dem Jahr, als er den Essay „Was tun?“ geschrieben hat Foto: Alain Mingam/Gamma-Rapho/getty images

Von Jens Kastner

In kulturwissenschaftlichen Seminaren und in staatstheoretischen Abhandlungen werden sie oft in einem Atemzug genannt: Antonio Gramsci und Louis Althusser. Sicher nicht ganz zu Unrecht. Als der französische Philosoph Althusser (1918–1990) im Anschluss an den Pariser Mai 1968 den repressiven Staatsapparat von den ideologischen Staatsapparaten unterschied, erkannten einige darin die Unterscheidung von politischer und Zivilgesellschaft wieder, die der italienische Parteitheoretiker Gramsci (1891–1937) schon in den 1930er Jahren entwickelt hatte.

Althusser hatte diese Wiedererkennbarkeit in einer Fußnote zumindest auch nahegelegt. In beiden Modellen geht es darum, die Stabilität von Herrschaft und die Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse zu erklären. Nicht Gewalt allein, organisiert in Militär und Polizei („politische Gesellschaft“/„repressiver Staatsapparat“) sichert das Bestehende ab, sondern die Arbeit am Bewusstsein und die Einübung der Körper, die in Vereinen und im Alltag (Zivilgesellschaft/ ideologische Staatsapparate) stattfinden, leisten ein Wesentliches zur Beständigkeit der Verhältnisse. Darin sind sich die beiden marxistischen Denker durchaus einig.

Aber offenbar müssen Lehrgewohnheiten und staatstheoretische Aufsätze, die diese Gemeinsamkeiten immer betont haben, jetzt revidiert werden. Denn postum ist nun ein Essay von Louis Althusser mit dem traditionsreichen – an Nikolai Tschernyschewski (1863) und Lenin (1902) angelehnten – Titel „Was tun?“ (Franz. 2018, Dt. 2020) erschienen, der eine einzige Abrechnung mit dem italienischen Genossen ist.

Im Jahr 1978 geschrieben, ist der Text in der typisch gnadenlosen Diktion der Zeit verfasst: Althusser wirft Gramsci nicht nur vor, lediglich über eine „Pseudotheorie der Geschichte“ zu verfügen. Weil er bloß beschreibe, anstatt zu analysieren, sei er gar „kein Theoretiker, sondern nur ein Leser der Geschichte“. Und letztlich mangele es Gramscis System am Entscheidenden: „Alles, was mit dem Produktionsverhältnis, mit der Ausbeutung und mit ihren materiellen Voraussetzungen zu tun hat“, würde bei Gramsci schlicht fehlen. Ein vernichtendes Urteil über einen Marxisten.

Aber Althusser geht es gar nicht um Polemik. Er geht sehr systematisch vor. Es geht ihm vor allem um zweierlei: Zum einen steht der Status der marxistischen Theorie und was sie zu einer sich ständig verändernden Wirklichkeit zu sagen hat in seinem Fokus. Hier will Althusser aufzeigen, dass sich die Theorie aus seiner Sicht nicht dem Gegenstand – der sich verändernden Welt – angleichen dürfe. Das tue aber Gramsci, wenn er auch die Theorie als eine Praxis begreife, die ebenso historisch ist wie die Wirklichkeit, die sie zu fassen versuche.

Althusser wirft Gramsci vor, über eine „Pseudotheorie der Geschichte“ zu verfügen

Althusser nennt diese Haltung einen „Historismus“ und insistiert demgegenüber mit Marx darauf, dass die permanente Veränderung immer nur ein Mittel sei, um die kapitalistische Produktionsweise zu erhalten. Während Gramsci die Geschichte im Lichte der sie hervorbringenden Praxis interpretiert, geschieht sie nach Althusser also immer „im Sinne der von einer stabilen Struktur hervorgebrachten Bedingungen“.

Man könnte sagen, hier prallen zwei grundlegende Strömungen innerhalb des Marxismus aufeinander: Strukturalismus und Praxistheorie. Sie gehen letztlich beide auf Marx’berühmte Formel aus dem Text „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) zurück: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Während Gramsci an den ersten Satzteil anknüpft (Praxis), steht für Althusser die Beschäftigung mit dem zweiten (Struktur) im Zentrum.

Das zweite Anliegen Althussers ist eine politische Intervention. Althusser wendet sich entschieden gegen den „Eurokommunismus“, eine in den 1970er Jahren starke Strömung innerhalb der westeuropäischen Kommunistischen Parteien. Diese Strömung, der auch die italienische KP zugerechnet wurde, wendete sich nach dem Prager Frühling vom Führungsanspruch der Sowjetunion ab. Damit ging eine strategische Beteiligung an der parlamentarischen Demokratie einher, viele sahen das als Sozialdemokratisierung an. Althusser bringt den Eurokommunismus direkt mit Gramsci in Verbindung, er stützte sich, schreibt er, „auf das Denken Gramscis“.

Insofern damit ein Kampf um Hegemonie gemeint ist, die von Gramsci geprägte Vokabel für politische Auseinandersetzung in der Zivilgesellschaft und für die Durchsetzung von Konsensen, mag das noch stimmen. Ob der Kampf um Hegemonie aber den Klassenkampf ausschließt, wie Althusser unterstellt, ist eine andere Frage. Spätestens hier erscheint der Gramsci, den Althusser den LeserInnen präsentiert, doch ziemlich zurechtgebogen.

Althussers These, dass Gramsci sich mit der Frage nach der Hegemonie auch vom Staat verabschiede, weil dieser nur als „Phänomen der Hegemonie“ wahrgenommen würde, hält wohl keiner Gramsci-Lektüre stand. Auch geht Althussers Kritik an Gramscis angeblich mangelndem Verständnis von Ideologie ziemlich daneben: Gramsci habe nicht verstanden, dass die Staatsgewalt, um existieren zu können, vom Volk anerkannt werden müsse und dass das Volk sie nur anerkennen könne, „indem es sich in ihr wiedererkennt“. Genau das aber ist es, was Gramsci gezeigt hat.

Antonio Gramsci (undatiert) Foto: imago

Althusser passt einfach nicht, dass Gramsci vom Dogma abweicht, den Marxismus als jene Wissenschaft zu betrachten, für die die Ökonomie als „in letzter Instanz bestimmend“ gilt. Und ihm passt nicht, was manche KommunistInnen aus Gramsci gemacht haben, nämlich die Parteilinie des Eurokommunismus. Diese Linie nicht zu verfolgen, wäre schließlich auch das, was die Frage „Was tun?“ nach Althusser beantworten sollte.

Dass diese eurokommunistische Interpretation Gramscis allerdings nicht unbedingt das ist, was notwendigerweise aus seinen Schriften zu folgern ist, sollte sich von selbst verstehen. Den vielen kulturtheoretischen Implikationen, aber auch dem Materialismus Gramscis wird Althussers Abrechnung ohnehin nicht wirklich gerecht.

Ein tolles Zeitdokument mit bis heute relevanten Fragen zur Rolle der Theorie und zur Strategie der emanzipatorischen Kämpfe ist das Buch aber allemal.

Louis Althusser: „Was tun?“ Hg. von G. M. Goshgarian. Aus dem Französischen von Oliver Precht. Verlag Turia + Kant, Wien/Berlin 2020, 180 Seiten, 22 Euro

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