berliner szenen: Alles anders, nur eins nicht
Die Blumen in der Vase stinken, die müssen sofort raus in den Müll. Gedacht, gemacht – Mist. Der Schlüssel liegt in der Wohnung, ich habe mich ausgesperrt. Es kann dauern, bis jemand kommt und mich reinlassen kann. Das Stammcafé nebenan tröstet mich mit Cappuccino und Fleecedecke. Zeitungen gibt es hier nicht, alle lesen im Smartphone. Meins liegt oben, wahrscheinlich verpasse ich lauter interessante Nachrichten.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als in die Gegend zu glotzen. Es ist Jahre her, dass ich hier mal zum Warten verdammt war. Damals ging in der Straße immer ein humpelnder Mann mit seinem humpelnden Dackel Gassi und eine Frau, deren Frisur ihrem Pudel ähnelte. Der moderne Hund scheint ein Mops oder ein Dalmatiner zu sein, ausgeführt von Menschen um die 30 mit wippendem Gang und nagelneuen Sneakers. Damals kam einmal am Tag das gelbe Postauto. Jetzt biegt ein Lieferwagen nach dem anderen in die Straße: DHL, Hermes, GLS, DPD. Die meisten Fahrer suchen hektisch nach Hausnummern; kein Wunder, wenn Nr. 53 am Anfang der Straße liegt und Nr. 54 am Ende. Haben die keinen Stammbezirk? Anders die, die ihre Kleinwagen parken. Ausschließlich Frauen. Sie wissen genau, wo sie hinmüssen, ebenfalls im Eilschritt. Ihr Auftrag steht als Werbebotschaft auf dem Auto: Krankenpflege.
Nur eine Szene kommt mir unverändert vor: Zwei Jugendliche auf dem Mäuerchen tauschen Süßigkeiten. Der kalte Stein scheint ihnen nicht in die Glieder zu kriechen, auch die schrille Schulklingel stört sie nicht. Sie ist dramatisch geschminkt, er wirkt schüchtern in seinem weißen Shirt. Zentimeter für Zentimeter verringert sich der Abstand zwischen den beiden. Bis sie einfach seine Hand nimmt.
Der Schlüssel war übrigens in der Hosentasche.
Claudia Ingenhoven
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