: „Friesische Frauen waren schon früh emanzipiert“
Thomas Steensen, ehemaliger Leiter des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt, hat ein neues Buch über „Die Friesen“ verfasst. Dabei kennen und verstehen Ost-, West- und Nordfriesen einander kaum. Den Nazis wiederum galten sie allesamt als „Edel“-Germanen
Interview Petra Schellen
taz: Herr Steensen, Sie haben gerade ein Buch über die Friesen geschrieben. Gibt es „den Friesen“ überhaupt?
Thomas Steensen: „Den“ Friesen gibt es nicht, wohl aber die Friesen. Gemeinsam ist allen die Lage an der Nordsee, die ihre Kultur und Geschichte maßgeblich beeinflusst hat. Darum lautet der Untertitel des Buchs „Menschen am Meer“. Aber wir haben drei verschiedene Frieslande – Nord- und Ostfriesland hierzulande sowie Westfriesland in den Niederlanden. Entsprechend verschieden ist die jeweilige friesische Identität.
Inwiefern?
Bei den Westfriesen ist sie stark mit der Sprache verbunden. Dort sprechen vier Fünftel der Bewohner Friesisch, das einen sehr hohen Stellenwert hat: Vom Kriminalroman bis zum Sachbuch gibt es eine Fülle friesischer Literatur. In Ostfriesland wiederum wird kein Friesisch mehr gesprochen. Dort definieren sich die Menschen über „friesische Freiheit“ – die des Bauern etwa, der auf eigenem Grund und Boden waltet. Oder die des Seefahrers auf den Weltmeeren, der sich nicht befehlen lässt.
Was bedeutet „friesische Freiheit“?
Sie wurde den Friesen angeblich – aber das stimmt nicht – im Mittelalter von Karl dem Großen verliehen – und darauf beruft man sich in Ostfriesland gern. Für die nordfriesische Identität wiederum ist die Sprache essenziell – auch wenn sie nur noch 8.000 bis 10.000 Menschen sprechen. Eine wichtige Rolle spielt auch die friesische Architektur, die eigenständig und vielfältig ist.
„Das Friesische“ besteht allerdings aus etlichen Dialekten.
Ja, da spricht man von drei Zweigen. Da ist einmal das Nordfriesische, das keine einheitliche Sprache ist, sondern aus verschiedenen Dialekten besteht. Das Ostfriesische ist im Kernland ausgestorben, wird aber als Saterfriesisch von etwa 2.000 Menschen im Saterland gesprochen. Das Westfriesische ist relativ einheitlich. Diese drei sprachlichen Zweige haben sich stark auseinanderentwickelt, sodass es für einen Westfriesen schwer ist, einen Nordfriesen zu verstehen.
Wie stark ist das Friesische vom Aussterben bedroht?
Das kommt darauf an, was man unter „Aussterben“ versteht. Nehmen wir Nordfriesland: Friesisch als Umgangssprache ganzer Dörfer findet man am ehesten noch im Westen der Insel Föhr. Dort gehört es zum guten Ton, Friesisch zu sprechen, auch mit den Kindern. Dort wird es noch lange leben. Auch auf dem nordfriesischen Festland wird es noch lange leben – zwar nicht als Umgangssprache, aber in bestimmten Lebenssituationen. Junge Leute finden es teilweise schick, auf Whats-App friesische Nachrichten zu schreiben.
In Ihrem Buch nennen Sie die mittelalterlichen Friesen „Seefahrer und Fernhändler par excellence“. Waren sie Vorreiter der Hanse?
Das kann man durchaus sagen. Sie haben mit einem eigenen Schiffstyp Handel zwischen Nord- und Westeuropa betrieben, sind bis London und Gotland, sogar den Rhein bis Heidelberg hinaufgefahren.
Wie wirkten sich die langen Abwesenheiten der Seefahrer auf die Rolle der Frauen aus?
Das ist leider kaum erforscht. Chronik-Aufzeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert erwähnen, dass sich die Frauen nach der Rückkehr ihrer Männer – die von Februar bis Oktober auf Walfang gewesen waren – das Zepter nicht unbedingt wieder aus der Hand nehmen ließen. Man kann davon ausgehen, dass die Frauen auf den friesischen Inseln schon früh „emanzipiert“ und selbstbewusst waren.
Wie viel Prozent der Friesen waren Seefahrer, wie viele Bauern?
Genau lässt sich das nicht sagen. Insgesamt gab es mehr Bauern als Seefahrer. Die Seefahrt war vor allem für Insel- und Küstenbewohner wichtig. Im Binnenland dominierte aber eher die Landwirtschaft.
Die Krummhörn bietet etliche Kirchen und wertvolle Orgeln. Wann war Friesland so reich?
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Da spielten die Bauern eine große Rolle, weil sie landwirtschaftliche Produkte aus den fruchtbaren Marschlanden in die Städte liefern konnten.
Die Bauern spendeten ausgerechnet Orgeln?
Ja, denn einerseits war das ein Statussymbol. Andererseits waren die Bauern der zweiten Generation oft gebildet; man denke an den Begriff der „lateinischen Bauern“. Das geht darauf zurück, dass die reichen Bauern ihre Söhne zum Studium schickten. Dann kamen sie zurück in die Frieslande und übernahmen den Hof. Von diesen gebildeten Bauern kann man sich durchaus vorstellen, dass sie auch musische Interessen hatten.
Wann verfiel der Reichtum in Nord- und Ostfriesland?
Was die Seefahrt angeht, gab es sicherlich Anfang des 19. Jahrhunderts einen Schnitt. Einerseits hörte der Walfang auf, weil die Walbestände dezimiert waren. Andererseits kam die Handelsfahrt, wie die gesamte Wirtschaft, durch die Kontinentalsperre der Napoleonischen Kriege zum Erliegen. Da gibt es regelrechte Not auf den friesischen Inseln. In der Folge sind besonders viele Menschen nach Amerika ausgewandert, zum Beispiel aus Föhr. Beendet wurde die Not dann mit Aufkommen des Fremdenverkehrs ab dem 19. Jahrhundert.
Sie erwähnen auch die „dramatische Geschichte der Friesen“. Meinte Sie die Sturmfluten?
Ja, die Sturmfluten bzw. „Manndränken“ gehören zu den großen Naturkatastrophen der europäischen Geschichte, das macht man sich gar nicht so klar. Und dass da Zehntausende in einer Sturmflut-Nacht umkamen, hat die friesische Landschaft natürlich enorm geprägt. Da geht es ja nicht nur um den verheerenden Tod vieler Menschen, sondern auch um die Folgen. Um den ökonomischen und kulturellen Niedergang, aber auch um Neuzuwanderung: Große Gebiete Nordfrieslands haben zum Beispiel Niederländer wieder eingedeicht, die dann dort blieben.
Es gab mehrere schwere Sturmfluten. Wie stark hat es die Menschen geprägt, immer wieder einzudeichen?
Sehr stark, und man ist stolz darauf. Ein Bauer sagte zu mir: „Wir leben auf Land, das wir der Nordsee abgerungen haben. Gott schuf das Meer, der Friese die Küste.“ Dieses Bewusstsein habe ich auf meinen Radtouren durch die Frieslande oft vorgefunden.
Thomas Steensen
68, Historiker, Politologe und Soziologe, war von 1992 bis 2018 Direktor des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt. Kürzlich erschien im Wachholtz-Verlag sein Band „Die Friesen. Menschen am Meer“, 280 S., 20 Euro.
Bizarr, dass die Menschen diesen Kampf nicht leid wurden.
Manch einer tat es ja: So einige Nordfriesen sind nach der Manndränke von 1634 nach Amerika ausgewandert. Aber das waren Ausnahmen. Die meisten haben versucht, neu zu deichen. Dabei spielte sicher auch eine Rolle, dass ein bedeichter Koog fruchtbares Land bot, auf das man eine Existenz aufbauen konnte.
Merkwürdig, da zu wohnen, wo einst Tausende ertranken.
Ja, aber in den letzten Jahrzehnten ist das Gefühl einer größeren Sicherheit entstanden. Die Deiche sind heute acht bis neun Meter hoch und gelten als sicher. Aber auch wenn die Katastrophen von einst nicht mehr präsent sind: Natürlich ist es möglich, dass so etwas wieder passiert und man dieses Land irgendwann aufgeben muss, wenn der Meeresspiegel weiter steigt.
Sprechen wir über die NS-Zeit: Die Friesen waren da recht anfällig.
In der Tat war die NSDAP schon 1932 nicht nur in Dithmarschen, sondern auch in Nordfriesland sehr erfolgreich. Die Zustimmung etwa im Kreis Südtondern lag bei 73 Prozent. Das ist enorm hoch.
Wie ist das zu erklären?
Zum einen litten die Inseln Not, weil infolge der Weltwirtschaftskrise der Tourismus eingebrochen war. Auch die Bauern erlebten eine Krise. Zudem spielte die Sozialstruktur eine Rolle: Es gab in den Frieslanden kaum Industriearbeiter, sodass die SPD schwach war. Auch waren die friesischen Gebiete in der Regel evangelisch. Daher spielte die katholische Zentrumspartei, die in der Weimarer Republik ja relativ stabil blieb, keine Rolle.
Hinzu kam die NS-Rassenideologie.
Ja. Dass die Friesen die „Edelgermanen“ sein sollten, mag sie dazu gebracht haben, diese Partei zu wählen. Auch mit dem Terminus „Freiheit“ haben die Nationalsozialisten gespielt; ein Vorläufer der NSDAP im Norden hieß „nationalsozialistische Freiheitsbewegung“. Das meinte natürlich nicht die liberale, individuelle – und schon gar nicht die „friesische Freiheit“. Aber das ist möglicherweise von vielen falsch verstanden worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen