berliner szenen: Nukleare Zellen des Glücks
Meine Freunde! Wo seid ihr? Verschwunden in Familien, verloren gegangen zwischen Homeschooling und Einschulung, wartet ihr auf bessere Zeiten in euren kleinen Gärten und staubigen Lauben, Datschen und einmaligen Gelegenheiten, last minute und gerade noch rechtzeitig mit schlechtem Gewissen ergattert, füllt ihr eure Miniaturschwimmbecklein trotz der Trockenheit, um dem Gedränge in den öffentlichen Badeanstalten zu entgehen oder schwimmt ihr im See, nein, stand-up-paddelt ihr auf ihm; wo seid ihr, meine Freundinnen, verschwunden in nuklearen Zellen des kleinen Glücks, des Unglücks, kümmert euch auf ewig um die nachwachsenden Zeh- und Fingernägel der Kleinen, damit sie nicht andere kratzen und nicht zu viel Dreck sich darunter sammeln möge; wo seid ihr, meine Thekenpartnerinnen der Nächte, wo steht ihr im Stau mit euren Automobilen, die ihr nie haben wolltet, steht ihr in den Staus auf den Wegen raus aus der Stadt über den Asphalt, den Asphalt, den Asphalt, und dann ist der See so furchtbar voll, so voll, so voll, lieber in den Pool, den Pool, den Pool, aber ihr vergesst: Einsam im Wedding sitze ich auf der Straße und warte auf euch, denn ihr sollt kommen und mit mir sitzen und schwitzen auf schmutzigen Treppenstufen mit Blick auf das Trottoir, garniert von getrocknetem Köterkot und Kippenresten, und reden mit mir sollt ihr und Bier trinken, oh, kommt zurück aus euren uckermärkischen Idyllen, seid ihr nicht in die Stadt gekommen, um unglücklich zu sein; kommt zu mir, lasst uns strawanzen durch staubige Straßen, die voll sind von all jenen, die sich nicht verstecken in Lauben und Ländereien, hier gibt es das Leben, von dem ihr immer lest, kommt zu mir, ich warte auf euch zwischen den Ritzen der Gehwegplatten, in der zerflossenen Süße der Baklavas. Kirsten Reinhardt
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