: Ende der Globalisierung
Ivan Krastev zählt zu den meistgelesenen Intellektuellen. In seinem neuen Essay denkt er über die Welt nach der Pandemie nach
Ivan Krastev: „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“. Aus dem Englischen übersetzt von Karin Schuler. Ullstein Verlag, Berlin 2020, 96 Seiten, 8 Euro
Von Fabian Ebeling
Man könnte meinen, dass Intellektuelle in der Covid-19-Pandemie bisher blass geblieben sind. Man könnte aber auch meinen, dass Besonnenheit – ganz besonders in einer Zeit, in der sich täglich Sachlagen verändern können – die bessere Wahl ist, statt Halbgares rauszuhauen.
Im März 2020 setzte sich der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev also hin, isoliert im bulgarischen Landhaus eines Freundes, und schrieb auf, was er über die Pandemie denkt. In „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“ sucht er nach Mustern, mit denen der kommende Gesellschaftswandel in Europa zu beschreiben wäre.
Das ist ein spannendes, auch ein schönes Vorhaben, und als Leser*in wird man auch nicht enttäuscht von Krastevs vorsichtigem Optimismus, der trotz kräftezehrender Weltlage immer wieder durchscheint. Auf dem Weg durch diesen Essay begegnet man allerdings erwartbaren Denkfiguren aus dem Kanon der Geistesgeschichte, die sich im Pandemieszenario anbieten, etwa Jeremy Benthams Panoptikum oder Carl Schmitts Ausnahmezustand. Wäre nicht Krastevs Movens, diese Figuren immer wieder gegen den Strich zu bürsten, sie lüden fast zum Überlesen ein.
Manche Argumente des Textes wirken in ihrer Konstruktion etwas weit hergeholt: Eine kenianische Studentin überlebt das Attentat auf das dortige Garissa University College 2015 nur, weil sie schnell die Koranverse auswendig lernt und aufsagt, die auch ihre muslimischen Kommiliton*innen im Angesicht der Hinrichtung durch Al-Shabaab-Milizen rezitieren und die verschont bleiben.
Diese Nachahmungslogik – entlehnt vom französischen Sozialpsychologen Gabriel Tarde – ließe sich auch auf die Reaktionen unterschiedlichster Staaten auf die Pandemie beziehen. Dass die Ebenen hier etwas durcheinandergeraten, ist vielleicht der Schnelllebigkeit dieser Tage geschuldet.
Davon abgesehen diagnostiziert Krastev aber zu Recht, dass entlang der Pandemie ohnehin bestehende Missstände zutage träten. So beschreibe der „Mittelschicht-Luxus“ Social Distancing zum Beispiel die schiefen Klassenverhältnisse in Europas Gesellschaften – nicht alle könnten sich eben die Isolation im Landhaus in den Bergen gönnen. Das Problem sei nur, dass es für Pandemien keine so ausgeprägte Erinnerungskultur gebe wie für, sagen wir mal, Kriege. Deswegen bleibt es offen, wie Gesellschaften nach der Krise mit diesen Schieflagen umgehen werden.
Eines scheint jedenfalls festzustehen: Das Virus „verheißt“ ein Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen. Schaut man auf die genaue Bedeutung des Verbs „verheißen“, also „nachdrücklich, feierlich in Aussicht stellen“, so lässt sich vermuten, dass Krastev dem nicht ganz unglücklich entgegenschaut. Oder doch anders? Das ist die Krux: Krastev ist kein Autor der lauten Worte, er schreibt gegen den Populismus an, gegen die dicken Mittelfinger, die Leute wie Viktor Orbán der EU zeigen, aber manchmal wünschte man sich vielleicht doch eine noch schärfere Positionierung des Autors.
Zwischen den Zeilen schwelt bei Krastev ein Konflikt unter den europäischen Mitgliedstaaten, in denen illiberale Züge zutage treten. Eine Option deutet sich in diesem Bändchen aber an: Liberale Demokratien müssen weniger Globalisierung wagen, ohne aber ihren Liberalismus abzulegen.
Darüber hinaus ist es ohnehin nötig, den Liberalismus neu zu denken, der ja an den Nationalismen und Imperialismen der Geschichte nicht unschuldig ist. Krastev lädt zu diesem Nachdenken ein. Antworten müssen wir freilich selbst suchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen