berliner szenen: Warten auf den neuen Zahn
Tanzend gehen wir unter. Oder hüpfend, auf einem türkisfarbenen Gummiball. Zum Beispiel im Medico Center am Leopoldplatz bei der Rückengymnastik mit Leia Organa. Ihr bürgerlicher Name spielt keine Rolle, aber Leia Organa ist nicht nur ihre Frisur, sondern ihr ganzes weich-bestimmtes Auftreten. So eine liebe Generälin alter Yoga-Qui-Gong-Pilates-Schule. Freundlich-streng dirigiert sie uns Geplagte zu Stärkungs- und Dehnungsübungen frei nach dem Moskauer Arzt Doktor Schoschonin. Ich liebe meine Rückengymnastik montags um 9 Uhr morgens. Ich war immer die jüngste Teilnehmerin und die schüchternste. Bis jetzt.
Denn seit heute habe ich eine Freundin. Sie setzt sich neben mich, lächelt mich an. Ihr fehlt ein Vorderzahn. Hüpf. hüpf. „Ich warte gerade auf den neuen“, entschuldigt sie sich. „Sieht doch frech aus“, sag ich. „Ich hatte mal einen Freund, der hatte auch so einen Zahn. Also: Nichtzahn.“ Sie nickt. Hüpf. hüpf. „Ist das sexy?“
„Ist sexy“, sage ich. Dann fällt mir ein, dass bei Frauen und Männern mit zweierlei Maß gemessen wird, was körperliche Unperfektheit angeht, vor allem in Verbindung mit Alter und Verfall (siehe Keith Richards versus Anita Pallenberg). Meine neue Freundin nickt wissend und erzählt, dass ihr neuer Zahn irgendwo verloren gegangen sei. Zwischen zwei Praxen, irgendwo in Berlin. Die Praxis in Schöneberg sagt: Der muss in Mitte liegen. Und die Praxis in Mitte sagt: Der liegt in Schöneberg. Nun wartet sie, bis er auftaucht.
Ich stelle mir den Zahn vor, schlummernd, in einer kleinen Schachtel mit Namensetikett. Ich frage mich, ob ich mir im Alter so einen Zahn leisten können werde. Aus Porzellan. Eher nicht. „Haben Sie eine Zahnzusatzversicherung?“, fragt sie mich. „Müssen sie unbedingt machen. Sie sind doch noch jung.“ Kirsten Reinhardt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen