: Schlachtfeld Autobahn
Raststätte für Rastlose: Am Deutschen Theater in Göttingen macht Regisseur Erich Sidler aus Ferdinand Schmalz’dystopischer Individualverkehrsabrechnung „dosenfleisch“ einen beeindruckenden Abend über den Verkehr als Metapher fürs in Kisten gefangene Leben
Von Jens Fischer
Nicht in einer trunkenen Laune, durchaus mit Bedacht hat sich Matthias Schweiger den Künstlernamen Ferdinand Schmalz gegeben. Der österreichische Sprachartist mag es, mit schön fettiger Eleganz ein eigenwilliges Kunstidiom aus Wortschöpfungen und -witzen, Kalauern, Floskeln des Alltags sowie Spielereien mit Satzkonstruktionen wie auch Doppeldeutigkeiten von Begriffen zu einem rhythmisch akzentuierten Textfluss zu komponieren. Ob Dia- oder Monolog: Das hat im Stück „dosenfleisch“ immer Kraft, Tempo, satirischen Humor und kann, dargeboten mit dynamischem Sprechduktus, einen musikalischen Sog beim lauschenden Erleben erzeugen.
Genau den gegenteiligen Ansatz wählt nun der Intendant des Deutschen Theaters in Göttingen, Regisseur Erich Sidler. Anstatt auf die Dynamik der von sich selbst berauschten Sprachpoesie zu setzen und mit ihr durch den zivilisationskritischen Splatter-Krimi zu gleiten, tritt er auf die Bremse und eliminiert Vitalität, Charme, Komik des Stoffes. Langsam wie im Tran, gleichförmig und ausdruckslos redet das Darsteller-Quartett. Grotesk zugerichtete humanoide Sprechroboter sind es, ihre Körper zumeist in Haltungen erstarrt. Ergibt dieser höchst artifiziell die Struktur der Vorlage fokussierende Ansatz auch einen Sinn? Und wie sieht all das in Florian Barths Ausstattung aus?
Nur ein Autobahnband fläzt sich durch die ansonsten leere Raumbühne „DT2“ und wölbt sich auch noch die Rückwand hoch. Darauf flimmert entweder ein endloser Strom angeknipster Autoscheinwerfer oder ihr Auf- und Ableuchten im Gegenverkehr. Es soll hier also ums Autobahnfahren gehen, ganz konkret und existenzialistisch. Denn so lange man in Bewegung sei, verwese man nicht, heißt es in dem Stück.
Es startet durch mit dem Auftritt eines Truckers (Gabriel von Berlepsch), der den Mittelstreifen der Highways als Ariadnefaden verehrt und über das ewige Gleichmaß seiner Reisegeschwindigkeit fabuliert, die gedehnte Zeit des Kilometerabreißens, dem er sich ergeben hat.
Denn der menschengemachte Verkehr schläft nie, auch nicht im rasenden Stillstand der Staus. Mittendrin erschlafft ist des Brummilenkers Diktion, zeitlupig sind seine Bewegungen. Wie Kafkas Gregor Samsa mutiert er auch mal zu einem über den Boden krabbelnden Käfer: Kreatur eines ritualisierten, funktionalistisch inhumanen Lebens. Es ist der Geist von Kraftwerks „Autobahn“, der die Szene beherrscht, der treibende Beat aber wurde gekappt zugunsten irritierend fraktaler Klänge von Michael Frei. Sie rauen die hypnotische Langsamkeit auf.
Irritierend auch der „Fleischnebel“, der den Fernfahrer dann doch einmal stoppt. Ein umgekippter Laster sei die Ursache. „Die Ladung hat sich selbst entladen“ – sie bestehe aus Dosen, die nun aufplatzten und ihre Fleischfüllung in die Luft sprühten. Aber wer denkt, jetzt bereits den Stücktitel verstanden zu haben, der irrt.
Der Fernfahrer jedenfalls lässt das reale Dosenfleisch auch als Sprachbild schnell hinter sich und sucht bis zur Entsorgung der Unfallfolgen einen dieser unwirtlichen Übergangsorte auf: die Raststätte irgendwo im Nirgendwo. Der Spielplatz ihrer Kindheit wurde der heutigen Pächterin Beate (Felicitas Madl) dort einst plattgemacht. „Die Autobahn bahnt sich den Weg, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“
Einladend wirkt Beates Auftreten nicht: „Die Würste auf dem Rost sind längst verdorben, immer schon, die Fliegen an der Scheibe sind längst gestorben, immer schon, und ich, na ja, seh’ns mich doch an …“ Ihr Körper ist in buckliger Matronenhaltung versteinert, die Lippen schreien plastikrot aus dem fahlen Gesicht, über (Kontaktlinsen-)Zombieaugen zucken die Lider. Assoziationen zu Bates Hotel und „The Walking Dead“ stellen sich ein und zur späteren Entdeckung der bei Beate gelagerten Tiefkühlkost auch als passend heraus.
Nicht unbeteiligt daran ist Beates Kumpelin Jayne (Anna Paula Muth). Der divenhaften Dame werden Luxussportwagenbilder auf die Bühne projiziert, sie schmiegt sich hinein und räkelt herum, fantasiert dabei von der perfekten Verschmelzung von Fahrerin und Gefährt. Jayne aber fühlt sich dabei behindert – nämlich „zerdellt“ nach einem Unfall. „Ein Schlachtfeld ist die Autobahn.“
Einst war Jayne Schauspielerin, nun hat sie sich aus der Öffentlichkeit in die Raststätte als Terrorzelle zurückgezogen, um ihren Hass auf die mörderische Automobilität mit unfallverursachenden Anschlägen und anarchistischen Aktionen auszuleben – etwa das Aufmalen von Fahrradwegen auf die Asphalthaut der Rennpisten. Ziel ist der totale Verkehrsinfarkt, um die Rückkehr der Wildnis vorzubereiten, auf dass das Straßenverkehrsnetz überwuchert werde. Eine so ernst genommene wie ins Absurde zugespitzte Utopie.
Vierter im Bunde der Autoneurotiker ist Rolf (Bastian Dulisch): aufgequollener Bürokratenbauch, den steifen Körper in ausbalancierter Ruheposition hin und her wippend. Er hat als Versicherungsvertreter von der Todeszone rund um die Raststätte gehört und sucht nun nach Gründen wie der Systematik der Unfälle. Ist aber auch voyeuristischer Jäger und Sammler von Live-Eindrücken sowie Fotos von verunglückten, aufgeschlitzten, zerteilten, zerquetschten Körpern. Ein Crash-Fetischist.
So stehen sie alle da wie Statuen ihrer selbst und philosophieren über den vorüberziehenden Verkehr als Metapher fürs vorüberziehende Leben. Und finden in der Bezeichnung Dosenfleisch für Menschen, die eingekeilt in ihren Blechkisten rasend dahinvegetieren, ein Bild der Existenz. Wir konservieren unser Selbst, gefangen in endlosen Pflichten und Notwendigkeiten – wie sie sagen. Leben im Hamsterrad ist wie Fahren auf der Autobahn. Was bei Schmalz die große Sehnsucht nach etwas Unberechenbarem ölt.
Ja, das klar strukturierte In-der-Welt-Sein müsste doch mal aus seiner Umlaufbahn um den leeren Sinnkern geworfen, also der metallische Kokon des Seins, die Karosserie gewaltsam aufgebrochen werden mit dem Risiko, als Fleischsalat zu enden – um im Jargon der Stückmetapher zu bleiben. Der Un- als Zufall als Erweckungserlebnis wird schließlich Rolf spendiert. Nach einer zwischenzeitlich zwischenmenschlichen Verkehrsanbahnung heißt es für ihn, einsteigen um auszusteigen. Er wird an die Hand genommen und in eine Karambolage verwickelt, die sich zu einem apokalyptischen Inferno entwickelt. Vis-à-vis mit dem Tod zu sein, ist für Rolf ein „einziger authentischer Moment“ der Erleuchtung.
So makaber pointiert hier mit der Debatte um Gegenwart und Zukunft der Mobilität auf den Sinn- und Unsinnebenen des Textes jongliert wird, der gebuttert flutschende Formulierungszauber ist in Göttingen nicht Mittel zum Zweck eines schlaulustig fidelen Bühnenspaßes. Sidlers theatrale Installation macht die Gefangenheit der Figuren in einer eng formatierten Welt deutlich und konzentriert auf die Bedeutung hinter den boshaften Pointen. Gerade mit dem großen äußeren Formwillen kommt die Inszenierung zum Eingemachten – was zielgenau zum finalen Befreiungsakt führt. Beeindruckend anti-schmalzige Schmalzkunst ist diese kunstvolle Verköstigung von „dosenfleisch“.
„dosenfleisch“: Fr, 21. 2., 20 Uhr, Göttingen, DT2; weitere Termine: 3. 3., 12. 3., 27. 3.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen