berliner szenen: Verachtung für diesen Tag
Ich fahre morgens mit dem Fahrrad zum übernächsten U-Bahnhof. Ich habe schlecht geschlafen, und die kühle Luft wird mich endgültig wecken. An einer Ampel halte ich neben zwei Lastenfahrrädern, in denen regressive neunjährige Schulkinder sitzen, die zu wenig Geld haben, um mit dem Taxi zur Schule zu fahren, und deren Eltern sicherlich zum Verkehrserziehungs-Elternabend aller 4. Klassen gehen werden.
Neben ihnen stehen drei etwas ältere Jungs, die ihre Jacken in den Händen halten, damit man die Marken-Logos auf ihren viel zu großen Pullovern sehen kann. Hinter ihren ausdruckslosen, etwas gelangweilten Gesichtern tobt die Verachtung für diesen Tag, für die Schule und dafür, dass sie hier und jetzt genau hier und jetzt sein müssen.
Auf der anderen Straßenseite schneidet ein Kastenwagen einem Fahrradfahrer die Vorfahrt ab. Für einen Moment denke ich, es würde übel enden, doch der Mann bremst im letzten Moment. Der Kastenwagen biegt ab. „Hey, du Arschloch!“, brüllt der Mann aus Leibeskräften, sieht sich um, sieht direkt hinter sich eine Polizeistreife, dreht sein Fahrrad, rollt auf die Polizei zu und beginnt in der gleichen Lautstärke auf die beiden Polizisten einzuschreien. Sie seien hier, um ihren gottverdammten Job zu machen, das sei unterlassene Hilfeleistung – und ob sie ihre schicken Uniformen irgendwo gewonnen hätten. Die Ampel schaltet auf Grün. Ich fahre los. Der Mann brüllt weiter auf die Polizisten ein, sein Kopf steckt fast in der heruntergelassenen Scheibe der Beifahrertür.
Dann öffnet sich die Tür, der Fahrradfahrer weicht zurück, einer der Polizisten steigt aus. Und als ich an ihnen vorbeikomme, höre ich die wütende Stimme des Polizisten, der nun ebenfalls aus Leibeskräften brüllt: „Krieg dich ma ein! Soll ich ihn erschießen oder was?“
Björn Kuhligk
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