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Spielen mit der Leerstelle

Dreimal ist Wajdi Mouawads Identitätstragödie „Vögel“ im Norden zu sehen – als Happy-End-Lovestory, Thesen-Spiel im TV-Serien-Stil und Selbstauflösungsdrama mit Pathos

Überall Vogelschwärme: Alize Zandwijk setzt in Bremen auf aufgeblasene Metaphorik Foto: Jörg Landsberg

Von Jens Fischer

Nicht künstlerisch originell überhöht, keine psychodramatische Virtuosennummer, sondern naturalissmo. Als hätte sich jemand von der Straße auf die Bühne verirrt. So gibt Tilo Werner die Tragödie enttarnter Lebenslügen als Selbstauflösung des fanatischen Juden David. Sprachlich in seiner Kindheit, schleicht er äußerlich beiläufig, innerlich entgeistert durch den maximal leeren Raum. Nimmt sich bis zur Unscheinbarkeit zurück. Alles verloren, von dem er meinte, es würde seine Ich-Erzählung definieren – Sohn eines KZ-Überlebenden zu sein, der anschließend dem ewigen Auge-um-Auge-Krieg in Israel entfloh.

David sah sich als Hüter des jüdischen Erbes, Fortschreiber der Tradition und Feind der Feinde Israels, vor allem der muslimisch-arabischen Welt. Und muss dann von seinem vorgeblichen Erzeuger erfahren, ein palästinensisches Findelkind, also sein eigener Feind zu sein. Eine Demütigung, die Identität pulverisiert. David entkleidet sich und wird in einem weißen Leichentuch eingerollt.

„Vögel“ heißt das von 14 deutschsprachigen Bühnen in dieser Saison gespielte Stück Waj­di Mouawads, das in beiläufigen Anspielungen und märchenpoetischen Ausführungen die gefiederten auch als utopische Wesen behauptet. Vom Quantenvogel geht etwa die Rede, der wie die nicht fix definierbaren Energieteilchen an zwei Orten gleichzeitig sein könnte, etwa dies- und jenseits der israelisch-arabischen Mauer.

Diesen Befriedungsaufruf arbeiten die Regisseure Hakan Savaş Mican in Hamburg, Katharina Ramser in Göttingen und Alize Zandwijk in Bremen sehnsuchtsvoll heraus. Wobei die Regisseurinnen ihre „Vögel“ auf den großen Bühnen des Stadttheaters inszenieren, das Thalia stellt nur die Außenspielstätte an der Gaußstraße zur Verfügung.

Überraschende inhaltliche Setzungen oder ästhetisch herausfordernde Ansätze scheinen die markigen Dialoge des schwerwiegenden Stoffs an allen drei Orten zu verbieten. Auf seine philosophische Leerstelle führen die Aufführungen das virulente Thema Identität zurück, damit sie als Kampfbegriff nicht mehr funktioniert und als Spielmöglichkeit reüssiert.

Mit wem, mit was man sich bis zur Identität identifizieren kann? Nur mit sich. Ich bin ich, mehr bedeutet Identität ja nicht. Ist fürs Selbstbewusstsein also unbrauchbar. Wird aber allenthalben, so auch in „Vögel“, als Beschreibung genutzt für das ganz besondere Eigene. Das Stückpersonal lebt wie jedermann in solchen Identitätssprechblasen aus Überzeugungen, Werten, Wissen, Herkunft, Rollen, Geschlecht, sexueller Orientierung et cetera – und muss erkennen, dass dies keine festgeschriebenen Wahrheiten sind.

Unterschiedliche Hoffnungsschimmer

Deswegen fehlt in keiner der mit vielen Strichen aufwartenden Aufführungen der Einwurf von Davids Sohn Eitan: Ob die Eltern mittags gen Mekka beten oder den Holocaust überlebt hätten, gehe spurlos an der DNA vorüber. Den Genen sei unser Schicksal egal. Wir müssten es selbst definieren und nicht eigene Wesensmerkmale aus einer Gruppenidentität herauskopieren. Die beschreibt Davids Gattin Norah als Grundübel unserer Zivilisation, weil sie zu Ab- und Ausgrenzungen führe. In diesem Fall den Nahost-Konflikt befeuert, dessen Grabenkämpfe das Stück wirkungsvoll simplifiziert.

Die drei Inszenierungen fokussieren unterschiedliche Hoffnungsschimmer. Etwa die Liebe. Hakan Savaş Mican hat die politische Dimension und zeitgeschichtliche Relevanz des Stücks weggeblendet und streichelt die Figuren ganz sanft in ihrer Ich-bröckelnden Emotionalität ins Bühnenlicht. Nichts ist laut ausgestellt, sondern geradezu nüchtern der Rührseligkeit übereignet.

Wird die erste Begegnung des jüdisch-arabischen Romeo-und-Julia-Paars Eitan und Wahida andernorts als pubertäres Entflammen leicht ironisiert gegeben, ergrünt in Hamburg ganz leise die Verliebtheit. Wächst unbeirrbar zur Liebe heran und führt zur arg aufgesetzt beschluchzten Trennung. Klezmer-Punker Daniel Kahn und Singer-Songwriterin Rasha Nahas nehmen den Darstellern aber immer wieder die Gefühligkeit von den Lippen und übersetzen eindringlich in rockballadeske Miniaturen. Ihr Barmen und Flehen wird final erhöht. Wahida kehrt zurück an Eitans Seite. „Vögel“ als Happy-End-Lovestory. Das ist zu wenig.

Verdrängte Familientraumata, Generationskonflikte, Schuld sind seit jeher Mouawads Lieblingssujet. Diesbezüglich wird Davids Gattin Norah in Göttingen mit besonderem Ingrimm als Identifikationsversagerin ausgestellt. In der als „Scheißhaus der Utopie“ beschimpften DDR hat ihr Vater den jüdischen gegen den kommunistischen Glauben eingetauscht, die rebellierende Tochter heiratete daraufhin aus pubertärem Revoluzzertum einen Juden – blüht aber nicht auf, sondern erstarrt in Zynismus.

Eitan und Wahida sind auch in Göttingen die wahren Helden, da sie ihre liberale Gesinnung identitätsstiftend nutzen. Norah setzt der zukünftigen Schwiegertochter allerdings ihren Alltagsrassismus dagegen: „Ich habe nichts gegen Araber, aber sie ist Araberin.“ Ist sie? „Nein, doch“, lautet Wahidas Antwort. Dann erfährt die perfekt assimilierte US-Bürgerin das Westjordanland als Ort ihrer Schwestern, Brüder, Mutter – sie behauptet einfach, dort seien ihre Wurzeln und zieht sich in diese Community zu einem neuen Identitätsspiel zurück. Dass Mouawads Personal als Thesenträger angelegt ist, wird gerade in Göttingen mit zupackend typisierendem Spiel betont – im Stil einer schnell produzierten TV-Serie. Das passt.

Alize Zandwijk geht hingegen elegisch in die Vollen – und hat dafür die Anflüge von Humor aus dem Text getilgt. Aschegewitter prasseln auf die weiße Bühne. Aufgeblasen ist die Metaphorik des Stücktitels mit pompösen Vogelschwarmprojektionen, fliegende Piepmätze gibt es auch als Schattenspiel und wenn jemand ein Buch in der Hand hat, klappt er es auf und zu – als Flügelschlag-Geräuschemacher.

Schauspieler gehen in ihren durch Verbrennungen – so hieß Mouawads Stück aus dem Jahr 2003 – ruinierten Kostümen unter im Zeitungsschnipselregen. Ein christianisierter Moslem trägt ein Peace-Zeichen auf dem Rücken, abgestorben ruht ein Bühnenbildbaum bedeutungsvoll in sich und rote Luftballons farbklecksen als Liebesverweise das Geschehen. Wahida muss schließlich schwanger über die Bühne stolzieren, strahlt zukunftsfroh mit einem Lebewesen im Bauch, das die Gruppenidentitäten der sich zerreißenden Völker in Palästina wohl geradezu dialektisch in sich auflösen soll. Das ist dann schon arg pathetisch.

Politische Dimension ausgeblendet: In Hamburg macht Hakan Savaş Mican aus „Vögel“ eine Liebesgeschichte Foto: Krafft Angerer

Sehnsucht nach Frieden

Als Beispiel konventionellen Erzähltheaters entwickelt „Vögel“ zwar nirgendwo die Wucht der zitierten „Ödipus“-Tragödie, ist aber derart wirkungssicher geschrieben – Einführung, Verschärfung, Stillstand und katastrophale Lösung der Konflikte –, dass die Aufführungen bestens funktionieren in ihrer Friedens-, Verständnis-, Liebessehnsucht. Besucher erheben sich regelmäßig zum Klatschen.

Kurz befragt erzählen einige, es sei nicht nur Gesinnungsapplaus und Schauspielerhuldigung, sondern Dank für einen grausam-berührenden Abend über soziales Miteinander in Zeiten identitärer Radikalisierung, über Kämpfe ums eigene Ich und die Existenz zwischen Krieg, Terror und Waffenstillstand an der Demarkationslinie unversöhnlicher Gruppenidentitäten. Das ist nicht wenig.

Künstlerisch am überzeugendsten aber war bisher Stefan Bachmanns Regie in Köln. Im Gegensatz zu den norddeutschen Inszenierungen, aber so wie es der Autor geschrieben hat, artikulieren sich die Selbstsucher dort in Arabisch, He­bräisch, Englisch und Deutsch, wechseln mit der Sprech- auch die Körper-, Welt- und Geisteshaltung, spiegeln so Fremdheit und Nähe mit sich und anderen. Per Übertitelung sind die Auseinandersetzungen für jeden nachvollziehbar. Nicht originell, aber zukunftsträchtig: Sprachvielfalt als Exempel heutig verwirrter Identitätssuche abzubilden, so die multilinguale Realität vor der Theatertür auf die Bühne zu holen.

„Vögel“ in Hamburg: Thalia Gauß. Nächste Aufführungen: Do, 18. 12., 20 Uhr, So, 26. 1. 20, 19 Uhr

„Vögel“ in Bremen: Theater am Goetheplatz. Nächste Aufführungen: So, 5. 1. 20., 18 Uhr, Sa, 11. 1. 20., 19.30 Uhr

„Vögel“ in Göttingen: Deutsches Theater. Nächste Aufführungen: Fr, 17. 1. 20, 19.45 Uhr

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