: Kunterbunt in den Inquisitionskerker
Prachtvolles Plädoyer, die Kluft zwischen widerstreitenden Denk- und Glaubenskulturen zu überwinden: Zum Auftakt ihrer ersten Saison als Opernintendantin lässt Laura Berman in Hannover von Lydia Steier Fromental Halévys „Die Jüdin“ auf die Bühne bringen
Von Jens Fischer
Recht beiläufig wird das Motto, mit dem Intendantin Laura Berman ihre erste Spielzeit an der Staatsoper Hannover eröffnet, schon mal beim einlassenden und Sekt in Gläser perlenden Personal angedeutet. „Koordinaten des Anderen“ lautet es und soll die Neugier auf das Fremde wecken. Und so trägt das Personal zu schwarzen Dienerunformen einen farbklecksig designten weißen Schal, auf dem sich die anderen – die Theatermacher und ihre Kunst – mit lässigem Skizzenstrich verewigt haben.
Die Radikalisierung von Menschen mit unterschiedlichen Lebenskoordinaten legt dann Lydia Steier zur Saisoneröffnungspremiere mit Fromental Halévys 1835 uraufgeführter Oper „Die Jüdin“ bloß. Darin offenbaren die rigiden Strafkataloge des jüdischen und christlichen Regelkanons ihre tödlichen Potenziale. In opulenter Szenografie zeigt die Inszenierung, wie geistig betonierte Ideologen und religiöse Dogmatiker in letzter Konsequenz zu inhumanen, ja terroristischen Aktivitäten neigen; wie die Bereitschaft, Vielfalt als Chance zu nutzen, an der Angst vor dem Fremden scheitert, die aus der Anonymität der Menge brutal herausbrechen kann. Ein höchst aktuelles Thema also.
In theaterklassischer Versuchsanordnung wird es mit dem Versuch verhandelt, die Kluft zwischen fundamentalistisch widerstreitenden Denk- und Glaubenskulturen von zwei ihrer Stellvertreter per Liebesmagie zu überwinden. Als solch populär-pädagogisches Projekt ist „Die Jüdin“ eine zur Grand opéra aufgeblasene „Nathan der Weise“-Version: ein Vernunftappell, die sozialhumane Botschaft der alttestamentarischen Religionen ernst zu nehmen und trotz ihres jeweiligen Alleinvertretungsanspruchs auf die Wahrheit sich nicht als Wir von Anderen abzugrenzen, sondern sie zu tolerieren.
Die narrative Konstellation hat Modellcharakter wie bei Lessing. In beiden Werken brennen Häuser. Ein reicher Jude, hier Éléazar, adoptiert ein christliches Findelkind und erzieht es als seine Tochter im jüdischen Glauben. Rachel nennt er sie bei Halvéy. Ihr leiblicher Vater ist der inzwischen zum Kardinal aufgestiegene Brogni, ein Todfeind der Familie Éléazars.
Erst im 5. Akt wird die zwischen den Koordinaten der beiden Religionen zu verankernde Identität Rachels offenbar. Bis dahin versteht sie sich als Jüdin und verliebt sich standesgemäß in einen Juden, der aber nur aus erotischer Zugewandtheit als solcher verkleidet, im Alltag der katholische Reichsfürst Léopold ist, bereits verehelicht mit Prinzessin Eudoxie.
So brechen reichlich Konflikte auf, in denen Christen und Juden bereit sind, sich gegenseitig totzuschlagen. Nicht wegen des Doppellebens des Hallodris, das wird bei einem Männerklischee wie ihm einfach akzeptiert. Sondern die blutschänderische Koalition verfeindeter Lebenskonzepte gilt es zu maßregeln, Feindbilder zum Machterhalt nutzbar zu machen. Ein Grundmuster im Schlachthof der Menschheitsgeschichte, mag Steier gedacht haben, und zeigt nun wechselseitig sich aufputschende Feindseligkeit in jedem Akt in einer anderen Zeit, behauptet sie quer durch die Epochen als der Historie immanent.
Der Abend startet mit wuchtigen Orgelklängen in einer US-amerikanischen, kunterbunt parodistisch kostümierten 1950er-Jahre Gesellschaft, alle jubeln ein „Te deum“ und schwenken Luftballons, bis Goldschmied Éléazar angeklagt wird, während dieses christlichen Partytages gearbeitet zu haben.
Nicht wegretuschiert hat die Regie, dass die Figur auch jüdische Stereotype bedient wie Shakespeares Shylock. Sein Hass gegen die Christen ist so groß wie deren Hass gegen die Juden. Unversöhnlich glüht auf beiden Seiten der religiösen Fanatismus. Rachels noch unwissender Vater posiert wie der Papst höchstpersönlich in einem Bühnenbildfenster, während ihn per Videoprojektion Engel umflattern, hebt er zu ariosen Ausführungen zu Milde und Vergebung an, ein Chorist pisst in die Szenerie – als Verweis, dass unter dem humanen Schein aggressive Xenophobie rumort.
Nun setzt Prinz Léopold sich die Kippa auf, macht in einem Cabrio den Elvis, reißt sich das Shirt auf, Mädels fallen in Ohnmacht, auch Rachel ist von der freien Sicht auf seine Brust betört. Große Musical-Kitschszene! Schon zieht eine Militärparade vorüber, Kriegs- und Folterleichen werden ausgestellt und der Chor als Volk verwandelt sich in einen Mob und geht mit Lynchlust gegen Éléazar vor.
Den rettet nur beherztes Eingreifen des nun wieder als original christliche Autorität auftretenden Léopold, der sich im nächsten Akt in voll orthodoxem Judenornat zur Pessach-Feier der Rachel-Familie schleicht. Projektoren lassen Feuer durch die kleinbürgerliche Enklave wüten. Nazi-Schergen stehen vor der Tür. Steier lässt die Szene in Deutschland des Jahres 1929 spielen.
Den 3. Akt dann 1738. Der als antisemitischer Propagandafall inszenierte Mord an dem Finanzbeamten Joseph Süß Oppenheimer bildet die Folie der Handlung. Da seine Leiche jahrelang mahnend ausgestellt wurde, baumeln nun in Hannover Menschengerippe in Käfigen über einem Rokoko-Büfett. Offiziell war es ein Mord aus religiösen Gründen, in Wahrheit wurde Oppenheimer als Sündenbock für die Schulden des Adels hingerichtet, die nun wie Hofschranzen über die Bühne buckeln, ebenfalls zum Mob pervertieren und in Pogromstimmung Rachel auf dem Esstisch wie auf einem Opferaltar anrichten.
Die letzten beiden Akte spielen dann in den Inquisitionskerkern Spaniens, 1492, und während des 1414er-Kirchenkonzils in Konstanz, wo Halévy und Librettist Eugène Scribe die komplette Handlung angesiedelt hatten. Die Inszenierung ist in ihrer Zeitreise rückwärts eine Materialschlacht von nur noch selten auf deutschen Bühnen zu erlebenden Ausmaßen. Hunderte Kostüme und Perücken quer durch die Jahrhunderte. Wobei es aber eben nicht um Verschleierung des Inhalts, sondern ums immer gleiche Aufzeigen von Stigmatisierung, Erniedrigung und Ausgrenzung in einem immer anderen Koordinatensystem geht.
Die optische Überwältigung funktioniert wie von Steier gedacht als „süße Verführung in Richtung Hölle“ – nämlich als Fokussierung der in Gewalt explodierenden gruppenpsychologischen Kräfte. Letztendlich ist die Produktion ein prachtvoll ohnmächtiger Widerspruch zu Lessings hoffnungswilliger Aufklärungsparabel.
Aber auch ein musikalisch machtvoller Beweis, wie schön all das klingen kann. Mit großer Geschmeidigkeit lässt Dirigent Constantin Trinks die farbprächtig orchestrierte Partitur zelebrieren, der Klangduktus entwickelt sich entsprechend der grausamen Dynamik der Handlung.
Sängerisch herausragend ist Hailey Clark. Sie gibt die Rachel programmatisch als eine Frau, die die Koordinaten der Anderen, der Christen und die eigenen, als jüdisch Erzogene, in sich vereint. Mit strahlendem Sopran entwickelt sie die anfänglich apart ziselierter Liebeszwitscherei zu Ausbrüchen greller Angstlust in Bezug auf die Konsequenzen streng gläubiger Religiosität und zeigt in Erwartung ihrer Hinrichtung die Verzweiflung, ihren Geliebten, ihren Glauben, ihr Selbstbild verloren zu haben – aber auch erschöpfte Hingabe an die fatale Erlösung durch Vernichtung. Und beglaubigt so dieses Spektakel zum Start der neuen Staatsopernintendanz in Hannover.
„Die Jüdin“: Di, 24. 9., 19.30 Uhr (Einführung 19 Uhr), Hannover, Opernhaus. Weitere Aufführungen: 27. 9., 3./6./8./12./31. 10.;
www.staatstheater-hannover.de
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