Esther Slevogt betrachtet das Treibenauf Berlins Bühnen:
Der Held ist gleichzeitig eine Heldin und irgendwann im Verlauf der Geschichte dreihundert Jahre alt – ist also nicht dingfest zu machen, weder in einem Geschlecht noch in einer Zeit. „Orlando“ heißt diese Romanfigur von Virginia Wolf aus dem Jahr 1928, die sich im Fluss der Geschichte, unter dem Druck von Systemen und Bedingungen ständig wandelt und trotzdem immer Orlando bleibt. Nun haben sich die Regisseurin Katie Mitchell und die Dramatikerin Alice Birch in der Schaubühne des Stoffs angenommen: in einer Inszenierung, die Bühnengeschehen und Livevideo miteinander verbindet, wollen sie Wolfs Roman dazu verwenden, um Orlandos „queere Reise durch die verschiedenen Jahrhunderte patriarchaler Menschheitsgeschichte“ zu untersuchen. So steht es auf der Webseite. Allerdings wirft diese Konkretisierung die Frage auf, ob Orlando von den beiden Künstler*innen doch noch dingfest gemacht werden soll (Schaubühne, Premiere 5. 9., 20 Uhr).
Im Berliner Ensemble tritt ein weiterer berühmter Held der Theatergeschichte um die Gunst gegenwärtiger Zuschauer*innen an. „Baal“ heißt er, kurz nach dem Ersten Weltkrieg von dem jungen Bertolt Brecht erdacht: Urbild des rücksichtslosen und menschen- und frauenverschlingenden, ja, Macht missbrauchenden Künstlers. Dieses Künstlermodell ist bekanntlich aktuell etwas aus der Mode gekommen. Weshalb sich auch das Stück nach Handlungsalternativen neu befragen lässt. Mit dieser Prämisse tritt nun der Regisseur Ersan Mondtag am Schiffbauerdamm an: und mit der tollen Stefanie Reinsperger in der Titelrolle (Berliner Ensemble, Premiere 6. 9, 19.30 Uhr).
Vor einem Jahr ging der jahrelange NSU-Prozess mit einer lebenslänglichen Verurteilung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe zu Ende. Mitangeklagte kamen glimpflicher davon. Was aber ist mit den Nebenklägern und Nebenklägerinnen, den Hinterbliebenen der Opfer also? Sie sind in der Regel ebenfalls zu „lebenslänglich“ verurteilt – weil sie nämlich lebenslang an den Folgen der Morde an ihren Angehörigen zu tragen haben, die aus rassistischen Motiven heimtückisch ermordet wurden. Im Haus der Kulturen der Welt widmet sich das dreitägige Festival „Das bleibt!“ den Angehörigen und ihren Perspektiven. Dabei geht es auch um die skandalösen Fehler der Ermittlungsorgane, die anfangs die Morde den Angehörigen in die Schuhe schieben wollten, weil ihr vom Rassismus geprägter Blick lange blind für die Wahrheit war. Das soll in Gesprächen, Filminstallationen und Workshops hör- und sichtbar werden (Haus der Kulturen der Welt: „Das bleibt!“, 6.–8. 9. Alle Infos: www.hkw.de).
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