berliner szenen: Schlanke stehen Schlange
Auf meinem T-Shirt steht „Phase 4“ und ganz ehrlich, ich würde niemals Touristen angreifen. Vor einiger Zeit las ich einen Artikel über die unterschiedlichen Stufen der Gentrifizierung und im Speziellen über die vier Phasen, in denen die Reaktionen derer klassifiziert werden, die ihr ausgesetzt sind. Phase 1 beschreibt die Umverteilung der Einwohner, bei Phase 4 kann es zu Übergriffen auf Touristen kommen. Eine Weile war es Gespräch am Küchentisch, und wenn mich alles ankotzte, sagte ich nur noch „Phase 4“. Dann schenkte mir meine Frau eines Tages dieses T-Shirt. Ich trage es zum Joggen.
Vormittags, an einem Sonntag gegen 10, hat sich eine lange Warteschlange in dem Ladengeschäft gebildet, das bis vor einem halben Jahr den einzigen ehrlichen Bäcker der Nachbarschaft beherbergte. Nun werden hier Backwaren verkauft, vor denen sorgfältig gefaltete, mit einem schwarzen Fine-Liner beschriftete Schildchen stehen, und die nun das Dreifache kosten. Die Besserverdienenden stehen Schlange, alles schlanke, sportliche Gestalten. Hinten in der Ecke, an einem der wenigen Tische sitzt einer, der hier schon früher saß. Seine Wangen sind unsauber rasiert. Er trägt ein breitgestreiftes Polohemd, das über seinem stattlichen Bauch spannt. Stumpf sieht er auf die Schlange, dann missmutig auf seinen Becher Kaffee, der ihm gerade gebracht wurde. Dann wuchtet er plötzlich sich und seinen Bauch zwischen Tischkante und Stuhl hervor, steht auf, balanciert den bis zum Rand gefüllten Becher, aus dem es hinausschwappt, von der Seite auf die Schlange zu und ruft „Achtung“. Eine Lücke entsteht, durch die er in seinen Schlappen, die vielleicht neben seinem Bett übernachtet haben, auf den Verkaufstresen zugeht, den Becher über die Backwaren hält. Eine Stille entsteht. Der Mann sagt leise: „Abgießen, bitte!“ Björn Kuhligk
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