Früher Popstars. Heute isoliert

Jahrgang 1978, ist freier Autor und lebt in Peking. Er schreibt für Chinas bekannteste Wochenzeitung Southern Weekend (Nanfang Zhoumo) und für Kunst- und Reisemagazine.

VON ZHOU WENHAN

George Orwells „1984“ finde in Frankfurt statt, meint der chinesische Exilschriftsteller Ma Jian, der seit vielen Jahren in London lebt. Die mehr als hundert zur Buchmesse angereisten chinesischen Verlage würden „alle von der Kommunistischen Partei kontrolliert“. Die Regimekritikerin Dai Qing hingegen sagt, es sei durchaus möglich, die Kontrolle der Verlage zu umgehen. Sie selbst habe Publikationen drucken lassen, ohne über die offizielle Lizenznummer zu verfügen. Zudem sei Hongkong als Sonderzone eine feste Burg für die Publikation von Werken dissidentischer Autoren.

Die offizielle, chinesische Verlegerdelegation und die auf der Buchmesse vertretenen dissidentischen Autoren repräsentieren Extreme: Während die offizielle Seite das Aufblühen und die Vielfalt des chinesischen Verlagswesens bezeugt, kritisieren die Dissidenten die dunklen Seiten unseres Landes, etwa dass ein Schriftsteller wie Liu Xiaobo allein wegen seiner Ansichten hinter Gitter kommt.

Die meisten Chinesen aber stehen heute zwischen diesen Extremen. Sie, die schweigende Mehrheit, ist in ihrer Meinungs- und Redefreiheit eingeschränkt. Gleichzeitig nehmen ihre Freiheiten im Alltag zu. Wenn jemand im privaten Raum über Staatschef Hu Jintao flucht, wird deswegen keine Geheimpolizei an der Wohnungstür klingeln und ihn abholen. Auslandsreisen und der Konsum von Luxusgütern sind ohnehin en vogue, zumal bei der jungen urbanen Mittelschicht.

Tatsächlich stehen beide Seiten vor einem Problem: Immer mehr junge Chinesen lesen nur noch im Netz. Sowohl den etablierten Schriftstellern als auch den Dissidenten laufen die Leser davon. Die Folge: Nur noch wenige Autoren können vom Schreiben leben.

Die guten alten Zeiten sind schon seit mindestens einer Dekade vorbei. Heute sind Popstars die Popstars. In den goldenen 80er-Jahren waren noch Lyriker wie Bei Dao und Gu Cheng die Stars. Traten sie in den Universitäten auf, wurden sie von tausenden von Studenten umringt. Und auf der größten Buchmesse der Welt? Nur 30 Zuhörer nahmen am Symposium zu „Literatur und Macht“ teil. Alles Deutsche. Davon 20 Journalisten.

Journalisten sind wichtiger als Literaten

Es ist erstaunlich, dass deutsche Medien der Kritik der Dissidenten so viel Beachtung schenken. Natürlich haben diese Autoren angesichts ihrer ungerechten Behandlung meine Sympathien. Ihre Stimme findet in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung in China aber keinen Widerhall. Die im Ausland lebenden chinesischen Autoren wie Ma Jian sind von der Bevölkerung isoliert.

Einfluss auf China haben die Journalisten, Akademiker und Gesellschaftskritiker in den Massenmedien. Ihre Berichte und Kritiken befördern Chinas Demokratisierung. Bei uns agieren Wirtschafts- und Umweltjournalisten wie die Paparazzi im Westen. Sie machen die Meinung. Sie verdienen viel mehr Aufmerksamkeit als die Literaturszene.

Aus dem Chinesischen von Petra Mann