das europäische detail: Istanbul, eine unserer Hauptstädte Europas
Nur landkarten- und abgrenzungsbewusste Menschen denken, ein Kontinent wie Europa sei an einer Meerenge wie dem Bosporus zu Ende. Und dahinter, das liegt auch in dieser Wahrnehmung, sei irgendwie seltsames, nichteuropäisches Land. Unfug. Anatolien, das türkische Kernland, ist nicht provinzieller als die niedersächsische Tiefebene bei Cloppenburg. Nur nicht so stramm christlich. Die Wahrheit ist außerdem: Istanbul, von dem nicht erst seit den antiautokratischen Geziaufständen rund um den Taksimplatz im Jahre 2013 die Rede sein muss, mag die fidelste, intensivst anmutende Metropole der Türkei sein, vor allem aber ist sie, historisch als Byzanz oder Konstantinopel bekannt, eine europäische Traummetropole, ein Labor der Zukunft.
So eine wie London oder Paris, nur jugendlicher, frischer und stärker fähig, der digitalen Moderne ein städtisches Gesicht zu geben. Istanbul ist indes in den Fantasien sehr vieler christlicher Menschen eine irgendwie viel zu unübersichtliche Stadt, chaotisch, laut, ungenießbar und sowieso viel zu muslimische, also auch uneuropäische Metropole. In Wahrheit ist ein Gros des europäischen Kulturerbes dort, am Bosporus, begründet und veredelt worden – zu Zeiten, als Athen noch ein staubiger Platz war und dort, wo Paris und Berlin liegen, nur Sümpfe waren.
Gar kein Zufall ist, dass die allermeisten Menschen dort – Türken von Nationalität, die meisten Europäer*innen im Herzen –, sich mehr oder weniger auszuhalten gelernt haben. Was man auch daran merken konnte, dass das AKP-Regime Recep Tayyip Erdoğans in Ankara die siegreiche Oppositionspartei CHP bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul dämonisieren muss, um sich am Ruder zu halten.
Aber die, nennen wir sie mal so, liberalen Wahlsieger*innen werden kämpfen. Istanbul hat schon viele glücklich gemacht – ein Hot Spot des europäischen Jungmenschentourismus – aber auch manche unglücklich und besorgt. Wie eben jetzt Recep Tayyip Erdoğan: Er wird sich noch wundern. (Jaf)
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