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Archiv-Artikel

Der Freund und der Fremde

Frühe Sechziger. Zwei junge Männer holen gemeinsam das Abitur nach: Benno Ohnesorg und Uwe Timm. Der eine wird 1967 auf einer Demonstration von einem Polizisten erschossen, der andere hat nun ein Buch geschrieben über den berühmten Toten, den keiner kannte

VON UWE TIMM

Dieser erste Blick. Unten der Fluss, der ruhig und grün dahinfließt, die Steinbrücke, auf deren Mauer er sitzt, ein Bein über das andere geschlagen, so schaut er zum anderen Ufer, ein paar Büsche und Weiden stehen dort, dahinter öffnen sich die Wiesen und Felder. Ein Tag im Juni, frühmorgens, noch mit der Frische der Nacht, der Himmel ist wolkenlos und wird wieder die trockene Hitze des gestrigen Tages bringen.

So, versunken in sich, sah ich ihn sitzen, als ich den Weg durch den Park des Kollegs hinunter zur Oker ging und zögerte, ob ich nicht umkehren sollte, dachte dann aber, er könnte mich schon bemerkt haben und vermuten, ich wolle ihm aus dem Weg gehen. Am Abend zuvor hatte ich auf ihn eingeredet, mit uns nach Hannover zu fahren. Dort, so hieß es, gebe es samstags Partys, in Villen, exzessiv werde da gefeiert, sogar das Wort Orgie war gefallen. Er war, trotz der fantastischen Erzählungen und obwohl er sonst oft nach Hannover fuhr, nicht mitgekommen. Ein wenig überrascht, ja erschrocken blickte er hoch, als ich zu ihm trat. Ich erzählte ihm von dieser Nacht und dem Gelage bis in den Morgen und der Fahrt im Auto, das mich eben zurückgebracht hatte. Ich sagte ihm, er habe etwas versäumt, denn ich glaubte, mein Erlebnishunger müsse auch der seine sein. Noch lebten und lernten wir erst wenige Wochen zusammen in dem Kolleg.

Aufgefallen war er mir, als wir zum ersten Mal im Klassenraum zusammenkamen und unsere Plätze an den Tischen suchten. Lärmende Erwachsene, die nach Jahren der Berufstätigkeit wieder Schüler geworden waren. Sechzehn junge Männer und zwei Frauen. Er war, glaube ich, der Jüngste, zwanzig Jahre alt, sah aber noch jünger aus. Er hielt sich in den ersten Tagen ein wenig, doch jeden demonstrativen Gestus vermeidend, von den sich bildenden Gruppen fern. Aus diesem Insichgekehrten sprach nichts Verdrucktes, Zaghaftes, sondern etwas selbstverständlich Unabhängiges. Das weckte meine Neugier, und so suchte ich seine Nähe. In den folgenden Wochen hatten wir ein paarmal miteinander geredet, über die Städte, aus denen wir kamen, Hannover und Hamburg, über die Stadt Braunschweig, in der wir jetzt lebten, über unsere früheren Berufe, er hatte Dekorateur gelernt und ich Kürschner, vor allem aber hatten wir sehr bald über Bücher, die wir gerade lasen, gesprochen, er über den Molloy von Beckett, und er hatte mir einige Stellen vorgelesen, deren Wortwitz ihm besonders gefiel.

Unsere Freundschaft begann als Gespräch über Literatur. Aber bis zu diesem Morgen im Juni hatten wir noch nicht über unsere Wünsche, über unsere Pläne gesprochen. Und das ist eine der bildgenauen Erinnerungen: Neben ihm stehend und über die Oker blickend, dehnte sich das Schweigen und gab dem Gefühl, ihn gestört zu haben, immer mehr Raum, und so fragte ich ihn, um überhaupt etwas zu sagen, was er denn da mache.

Nach einem kurzen Zögern zeigte er mir das kleine Notizbuch. Ich schreibe.

Und was?

Für mich.

Auch ich schrieb für mich.

So begann es, dass wir einander unser Geschriebenes zeigten und er mein erster Leser wurde.

Sechs Jahre später, Anfang Juni, 1967, in Paris, nachts, es war ungewöhnlich heiß, saß ich und schrieb, hörte Musik, klassische, aus dem Radio, leise, durch das weit geöffnete Fenster war das Rauschen des Verkehrs vom Périphérique zu hören, der hier unter der Maison de l’Allemagne in eine Unterführung mündete. Ich hatte in den letzten Wochen nur wenig geschlafen, meist bis in die Nacht hinein gearbeitet, wachte jeden Morgen früh auf von dem Lärm der Stadtautobahn und der Hitze, die sich in dem nach Südwesten gehenden Zimmer staute und auch nachts nicht wich. Ich schrieb an einer Arbeit, mit der ich in Philosophie promovieren wollte, über Das Problem der Absurdität bei Camus. So eingehüllt in die Geräusche der Nacht, kamen die Nachrichten, de Gaulles Waffenembargo für den Nahen Osten, das blieb im Gedächtnis, und dann die Meldung, am Vortag sei es in Berlin anlässlich des Schahbesuchs zu Ausschreitungen und schweren Unruhen gekommen, ein Student sei erschossen worden. Auch der Name fiel, aber ich war nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte. Nach einem Anruf in Deutschland gab es keinen Zweifel mehr, er war es, der Freund. Ich war wie durch einen Schnitt getrennt von all meinen Formulierungen, Überlegungen, starrte auf die beschriebenen Seiten, auf meine Handschrift und sie erschien mir plötzlich merkwürdig fremd. Ich ging hinunter, lief durch den Park, ging hinüber, zum Boulevard Jourdan, vorbei an den noch dunklen Cafés und Restaurants, an den Platanen, deren helldunkel gefleckte Stämme im Licht der Straßenlaternen leuchteten, ich ging und versuchte meine Gedanken zu ordnen, indem ich mich auf das Gehen konzentrierte, auf die Bewegung, die Schritte bewusst setzte, im Kopf ein Gemenge von Bildern, Situationen, Sätzen – Erinnerungsfetzen, in denen er auftauchte, auch jetzt, wie er in einem Freibad auf einem Handtuch liegend liest, wie er in London etwas skizziert, wie er sitzt und zuhört, sein Lachen, seine Gesten und wahrscheinlich auch dieser Augenblick, als ich ihn an der Oker sitzen sah, als wir zum ersten Mal über unser Schreiben sprachen.

Nachdem ich einige Zeit durch die Straßen gelaufen war, ging ich zurück in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch, stapelte die handgeschriebenen Seiten des Kapitels, an dem ich arbeitete, aufeinander, schob sie zusammen und legte sie in das Regal. Ich wusste, in den nächsten Tagen würde ich daran nicht mehr weiterschreiben können. Am Morgen darauf rief ich eine Freundin in Deutschland an und hörte von der Demonstration vor der Berliner Oper, in der das Schahpaar mit dem Bundespräsidenten und dem Berliner Bürgermeister Albertz gesessen hatte, sie erzählte von Wasserwerfern und einem Knüppeleinsatz der Polizei, zahlreiche Verletzte habe es gegeben, die Demonstranten seien auseinander getrieben und verfolgt worden, dabei sei er in einem Hof von einem Polizisten in Zivil erschossen worden. All das erschien so fern, zu unwirklich, um es mit ihm in Verbindung zu bringen. Vier Jahre war es her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten.

Einige Tage danach sah ich sein Foto in einer Zeitschrift, und dieses Wiedersehen war wie ein Schock. Er liegt am Boden, sofort erkennbar sein Gesicht, die Haare, die Hände, die langen, dünnen Arme und Beine. Er liegt auf dem Asphalt, bekleidet mit einer Khakihose, einem langärmligen Hemd, der Arm ausgestreckt, die Hand entspannt geöffnet, die Augen geschlossen, als schliefe er. Neben ihm kniet eine junge Frau in einem schwarzen Kleid oder Umhang. Die Frau könnte eben aus der Oper gekommen sein, dachte ich, vielleicht eine Ärztin. Sie blickt nach oben, so als wolle sie etwas fragen oder eine Anweisung geben, und hält, eine zärtliche Geste, seinen Kopf im Nacken. Deutlich ist das Blut am Kopf und am Boden zu sehen. Es hätte in diesem Schwarzweiß eine Einstellung aus dem Film Der Tod des Orpheus von Cocteau sein können, das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese Verwandlung. Es war einer seiner Lieblingsfilme. Ich saß in der Bibliothek über die Zeitschrift gebeugt und sah ihn, und in dem Moment wurde aus dem abstrakten Wissen um den Verlust eine körperlich spürbare Empfindung – ein Schmerz –, eine Empfindung, die jetzt, in diesem Augenblick, keine Empörung, keinen Hass, keine Wut kannte. All das kam erst danach, in den folgenden Tagen und Wochen, als ich versuchte, über ihn zu schreiben. Ich wollte mir, ich wollte allen verständlich machen, wen man getötet hatte. Wer uns für immer verloren war. Mehrere Anfänge, die ich jedes Mal wieder verwarf, weil die Sprache formelhaft blieb und meine hilflose Wut ins Deklamatorische verwandelte.

Wäre er infolge einer Krankheit oder eines Unfalls gestorben, wäre Trauer um ihn möglich gewesen, so aber war sein Tod ein Skandal, der in Kommentaren, Erklärungen und Gegenerklärungen abgehandelt wurde, und ich selbst musste bei jedem Bericht, bei jeder Diskussion, auch vor mir selbst, immer wieder dazu Stellung nehmen. Politische Erklärungen schoben sich vor jeden Versuch, sich seiner zu erinnern. Das Sensationelle seines Todes verhinderte in den ersten Wochen und Monaten ein einfühlsames Erinnern. Empörung verformte jede teilnehmende Annäherung durch Fragen nach den Umständen, nach dem Hergang, nach den Hintergründen. Ich fand keine Sprache für ihn, jeder Satz bekam einen aggressiven, abstrakt politischen Ton – einen Ton, der nie der seine gewesen war.

Als wir uns 1963 nach zwei Jahren in Braunschweig getrennt hatten, er zum Studium nach Berlin, ich nach München ging, war ich davon überzeugt, eines Tages von ihm zu hören, zu lesen, Gedichte, Prosa oder Essays. Es war für mich eine Gewissheit, er werde einmal durch sein Schreiben von sich reden machen.

Nie war mir der Gedanke gekommen, von ihm in einem politischen Zusammenhang zu hören. Nun war er gerade zu einem politischen Fall geworden. Sein Tod wurde als Beweis für autoritäre und faschistische Tendenzen der Staatsmacht genommen. Ich las, er habe keiner politischen Gruppierung angehört. Er sei keiner der Krawallbrüder gewesen. Das verstärkte sein Bild als Opfer. Die Öffentlichkeit erfuhr: Er war verheiratet, seine Frau erwartete ein Kind, vor allem, er war Student und politisch nicht engagiert, das war geradezu die Voraussetzung, ihn zum politischen Exempel zu machen. Es war eine merkwürdige Verkehrung seiner Existenz.

Was und wie von ihm geschrieben wurde, war ein so grundsätzlich anderes als das, was er selbst geschrieben hatte, hatte schreiben wollen.

In einem Kaufhaus der Innenstadt hatte der Freund seine Lehre als Schaufenstergestalter begonnen. Der leitende Dekorateur war ihm gewogen und, nach einem vorsichtigen Annäherungsversuch, ein um Freundschaft bemühter Mann, und so beschrieb er diesen Mann, den ich nie gesehen, von dem ich aber dennoch eine bildhafte Vorstellung habe: Er trug schwarze Hosen, schwarze Jacken, sogar, wenn es sein musste, einen schwarzen Kittel. Jemand, der alles Überflüssige hasste, der sich über Schleifen an den Kleidungsstücken erregen konnte, die er doch nur dekorieren sollte. Er muss jedes Mal wieder mit den Abteilungsleitern darum gekämpft haben, welche Kleider ins Schaufenster gelegt werden sollten, einfach sollte es sein, schnörkellos, knapp. Der Junge, stelle ich mir vor, stand daneben und hörte zu. Die Arbeit hinter den verhängten Schaufenstern. Der Chefdekorateur, der einen Tobsuchtsanfall bekam und einen Spiegel zerschmiss, weil er wieder einmal zu viel Plunder ins Fenster legen sollte.

Einmal hat er mehrere große, für den Dekorationshintergrund gedachte Spanplatten in einem hellen Grau anstreichen sollen. Eine Arbeit von zwei, höchstens drei Tagen, hatte der Chefdekorateur gesagt. Ich stelle mir vor: wie er in dem Kaufhaus, das im Zentrum von Hannover lag, in einem Raum im obersten Stockwerk arbeitete und zunächst Weiß auf die Fläche auftrug und dabei beobachtete, wie sehr Weiß nicht Weiß ist, wie, als er beim Streichen war, Licht kam und verschwand, wie am Himmel die Wolken zogen. Wenn aus dem dunklen Grau der Wolken ein helleres Grau wurde, um dann plötzlich dieses strahlende Weiß zu werden, ein Weiß, das er bei aller Mühe nicht vergleichbar malen konnte. Längst ging es nicht mehr darum, zu grundieren, sondern dieses Grau zu finden, das etwas Räumliches, Bewegliches hatte. Der Chefdekorateur war nach zwei Tagen gekommen und überrascht, dass er nur eine dieser Platten fertig gestrichen hatte. Aber was für ein Grau war das, ein fein abgeschattetes Grau, ein Schatten des Weiß, genau, er hatte den Weißschatten gemalt. Der Chefdekorateur wollte nicht glauben, dass er das allein mit Plakafarben erreicht hatte. Nahm dann die Platte mit nach Hause, um sie sich dort an die Wand zu hängen. Die restlichen Spanplatten ließ er von zwei anderen Lehrlingen an einem Tag grau anstreichen.

Im Kolleg hatte er sein Zimmer unter dem Dach, mit einem Fenster, das zum Park des Sommerschlosses Richmond hinausging, ein begehrtes Zimmer, größer als die anderen, mit einer größeren Kammer und einem größeren Duschbad. Ich besuchte ihn gern dort, blickte in das Laub der Bäume, ein stets aufgeräumtes, fast leeres Zimmer, einige seiner Zeichnungen hatte er an die Wand geheftet, die Bücher, wenige, ausgewählte, standen in dem Bücherbord, einige, deren Umschlag er mochte, waren wie Bilder hineingestellt. Der Schreibtisch war bis auf ein, zwei Bücher und eine Kladde leer. Einfaches weißes Geschirr. Er kochte Tee, stellte weißen Kandis auf den Tisch, alles mit ruhigen Handgriffen und ohne dabei zu reden, setzte sich dann in den Sessel und schwieg eine Welle.

Einmal hatte ich ihn in seinem Zimmer besucht, kurz nur, um etwas über unseren Diskussionsklub Hortus obscurus zu besprechen, war wieder hinuntergegangen und unten umgekehrt, um ihm noch etwas zu sagen, etwas Belangloses, schon damals Vergessenes. Als ich vor seinem Zimmer stand, hörte ich ihn toben. Ein Brüllen, Schimpfen, Fluchen. Auch schien er gegen Stühle, Schränke zu treten. Es war eine Pöbelei, ein berserkerhaftes Zwiegespräch mit einem Niemand. War ich gemeint? Ein rätselhafter Ausbruch. Unbeherrscht und laut, wie ich ihn nie gehört hatte und auch nicht mehr hören sollte. Ich ging wieder hinunter und in mein Zimmer. Ich habe ihn nie gefragt, worüber er sich derart erregt hatte.

Einig waren wir uns darin, dass bei Gedichten und Prosa immer die Sprache, die besondere, geformte, das Entscheidende war. Kritiker, die diese Selbstverständlichkeit besonders hervorhoben, hatten für uns etwas lächerlich Wichtigtuerisches.

Eine anonyme Sprecherin aus dem Publikum wird in den Akzenten zitiert: Ich bin erstaunt und empört zu sehen, auf welche Art man Dichtung herstellen kann. Ich habe immer geglaubt, eine Lyrikerin zu sein, aber ich nehme meinen Hut und meinen Mantel und gehe, entschuldigen Sie bitte. Das wurde für uns zu einer stehenden Abschiedsfloskel, über die wir, weil sie so schön übertragbar war, stets neu lachen konnten: Ich habe immer geglaubt, ein guter Schüler/Tänzer/Liebhaber zu sein, aber ich nehme meinen Hut und meinen Mantel und gehe, entschuldigen Sie bitte.

Einmal, im Sommer des zweiten Jahres, als wir an der Oker saßen, in der Stille eines sich langsam auftürmenden, durch keinen Windstoß sich ankündigenden Gewitters, und uns über Gefühl und Sprache unterhielten, über uns, in dem eben noch blauen Himmel, grauschwarz das tiefhängende Gewölk, las er mir, was er sonst nie tat, ein nicht fertiges Gedicht vor. Noch fehlte die letzte Strophe. Einer Ode gleich war der Klang, der Rhythmus, den ich noch immer höre, diesen Gesang, ohne mich an eine Zeile, auch nur an ein Wort erinnern zu können. Als er geendigt hatte, sagte keiner von uns ein Wort, und wir sahen den Regen näher kommen, eine dicht fallende gesträhnte graublaue Front, in der die Blitze niederfuhren, und der Donner rollte über die Wiesen und Felder heran, mit einer Wucht, die sich auf die Brust legte, einen Moment gelähmt, nicht vor Schreck, sondern innig beglückt standen wir und wurden in diese Flut eingetaucht.

Es war der Augenblick, in dem wir wussten, es wird gelingen, das Selbstgewählte voranzubringen, mit allem und jedem Einsatz, allein dem verpflichtet. Kein Unbeteiligtsein, sondern darin aufgehen. Ein hoher Ton, der nur an dem Beginnen möglich ist und sich nur aus der Unschuld der verspätet sich Bildenden erklärt, aus Traum und Wunsch, die man sonst niemandem hätte anvertrauen können. Schreiben nicht als Alternative, nicht, weil man es gern möchte, aber doch auch etwas anderes tun könnte, sondern weil man keine Wahl hat, dieses Eingeständnis, das von ihm nicht nur mit Verstehen beantwortet wurde, sondern mit brüderlichem Gleichsinn und Vertrauen. Eingestanden auch, dass dieses Müssen eine Selbstverpflichtung war, eine Gegenwehr, deutlich schon als Kind spürbar, schreiben zu müssen, was aus schulischer Qual erwuchs und doch von geheimnisvoller, ahnungsvoller Lust begleitet war.

Der nicht geschundene Mensch wird sich nicht bilden. Menandros

Das Gedicht hat er mir, weil die letzte Strophe fehlte, nie zum Lesen gegeben. Als wir uns trennten, war das Gedicht immer noch Fragment. Vielleicht war er durch diese vorzeitige Lesung nicht mehr in der Lage, es fertig zu schreiben. Ein Abschluss, der in der Situation des Vortrags aufgehoben wurde, dieser Augenblick an der Oker war möglicherweise die letzte Strophe. Es war ein Geschenk. Dem Glück des damals Beschenkten entspräche das Glück, dieses Gedicht, das Fragment, mit seinem nur mir bekannten, nicht vorhandenen Schluss doch noch zu finden, es nochmals zu lesen, bewusst und mit allen Sinnen.

Wir sprachen über Bücher. Und über eines haben wir ausführlich und immer wieder gesprochen, ein Buch, das uns über lange Zeit bewegt hat – Der Fremde von Camus.

Ich hatte das Buch, als ich an das Kolleg kam, eben zum zweiten Mal gelesen und las es mit ihm gemeinsam zum dritten Mal. Wir lasen uns kleine Abschnitte vor, sprachen über die Stimmung, über die Umgebung der algerischen Stadt, in der Meursault lebt, eine Stimmung, die uns vertraut schien, dieses von der Gesellschaft Abgesondertsein. Dieser stereoskopische Blick auf Dinge und Menschen. Die Genauigkeit in der Beschreibung der Gefühle. Keine Heuchelei, keine Selbsttäuschung, keine Kompromisse, keine verschwiemelte Sinngebung, das gefiel uns, ihm, mir und vielen anderen an den Büchern von Camus. Eine Lektüre, die in dem Alter der Selbstfindung ihre Kraft entfaltet.

Was uns in Der Fremde ansprach, war die Abgrenzung von all dem, was Konvention war, die Infragestellung der großen Gefühle und Tugenden: Nation, Familie, Heimat, Pflicht, Glaube, Treue. Das hatten wir herausgelesen, die Kühle, den Zweifel, keine Gewissheit, den Wunsch nach Konsequenz, die Leidenschaft Denken, das vor allem, sich nicht vorschnell mit Widersprüchlichem zu versöhnen, keine Lauheit dulden. Bindungslosigkeit und Gleichmut waren dafür die Voraussetzung. Die indifférence war der geheime Treibsatz, um sich selbst das Interesse zu geben, fern und fremd zu sein, ein Interesse, das man dadurch – und das war sicherlich ein wenig pubertär – auch von den anderen für sich erhoffte.

Der Gleichmut, mit dem Meursault am Sarg der Mutter sitzt und einen Milchkaffee trinkt, eine Zigarette raucht, einschläft. Alles Dinge, die ganz unbedeutend sind und dann doch, nachdem Meursault einen Menschen getötet hat, gegen ihn ausgelegt werden, als Zeichen mangelnder Anteilnahme, als Gefühlskälte, ihn als Außenseiter kennzeichnen. Meursault, der, eine der von mir bewunderten Szenen in dem Roman, am Sonntagnachmittag am Fenster sitzt und auf die belebte Straße blickt, der isst, trinkt, mit einer Frau schläft, ohne dafür das große Gefühl Liebe in Anspruch zu nehmen, was, wenn schon nicht das Versprechen der Ehe, die Lizenz für die Frau, für Marie, gewesen wäre, sich dem Mann hinzugeben. Un moment après, elle m’a demandé si je l’aimais. Je lui ai répondu que cela ne voulait rien dire‚ mais qu’il me semblait que non. Elle a eu l’air triste.

Diese lapidare, aussparende Sprache, in der über die Liebe und Freundschaft erzählt wurde, gefiel uns. Und auch das fand unsere Bewunderung, wie die algerische Landschaft, die Sonne, das Meer, der Strand, der Ginster, das mediterrane Licht in einer ekstatischen Sprache gefeiert wurden.

Warum schießt Meursault? Eine Kurzschlusshandlung. Der am Strand ruhende Araber fühlt sich bedroht und zeigt sein Messer, keineswegs aggressiv, er lässt die Klinge kurz in der Sonne aufblitzen. Meursault schießt, fünfmal, unverständlich, unverhältnismäßig sind diese Schüsse. Eine Machtdemonstration, die auf die Ungleichheit der beiden, des Arabers und des algerischen Franzosen, hinweist, sogar in den Waffen. Die Bedrohung scheint auch weit mehr von der Hitze, von der Sonne auszugehen als von dem Messer des Arabers. Der Schuss wahrt Distanz. Eine dumpfe Gewalttätigkeit, der harte und betäubende Knall des Revolvers, nicht zu vergleichen mit diesem eleganten Aufblitzen der Klinge in der Sonne. Warum dieser Schuss? Der Freund hat das ganz einfach gedeutet: Meursault hat dieser Sonnenreflex in der Klinge des Messers aufgebracht. Die Sonne, die Hitze, das Aufblitzen des Messers, der Schuss, das ist alles. Vielleicht hatte er damit Recht, und es gab nicht die von mir gesuchte tiefere Bedeutung. Ein Zufall. Der Schuss ist so sinnlos wie der Tod, wie es die Welt ist. Die Welt ist, wie sie ist. Eine Tautologie, aber eine, die das Gleichgewicht angibt. Die Welt ist ohne Transzendenz. Es gibt keine Schöpfung, darum keine Geschöpfe. Das Leben, zufällig und in seinem Sinn nicht deutbar, das ist alles.

Zunächst waren es die Versuche, über ihn zu schreiben, um das Zufällige, das Absurde, das in diesem Tod lag, zu zeigen. Unabweisbar drängte sich der Vergleich auf: Meursault, der den Araber erschießt, wird vom Staat zum Tode verurteilt, den Polizisten Karl-Heinz Kurras spricht der Staat frei, mit der Begründung, es sei ein Todesschuss aus putativer Notwehr gewesen. Der Beamte habe sich durch einen Demonstranten, der angeblich ein feststehendes Messer in der Hand hielt, bedroht gefühlt. Keiner der Zeugen hat einen Demonstranten mit Messer gesehen. Und noch weit erstaunlicher ist die Urteilsbegründung, die zum Freispruch des Todesschützen Kurras führte: Es hat sich sogar nicht ausschließen lassen, dass es sich bei dem Abdrücken der Pistole um ein ungesteuertes, nicht vom Willen des Angeklagten beherrschtes Fehlverhalten gehandelt hat. Eine merkwürdige Parallele zu der Begründung, die der Freund Meursaults Schüssen auf den Araber gegeben hatte – die Sonne, das Aufblitzen des Stahls, eine reflexartige Reaktion. Nur dass hier die staatliche Gewalt sich rechtfertigt, indem sie versucht, dem Sinnlosen einen Sinn zu oktroyieren, und den Todesschützen freispricht, was das Sinnlose um so empörender erscheinen lässt.

Im gemeinsamen Protest, in der Revolte, wurde die indifférence, meine, vieler, überwunden. Wie Camus durch seine Mitarbeit in der Résistance seinen Sinn fand, so fand sich Sinn in dem Protest gegen den Staat, den man, weil so viele der alten Staatsdiener noch im Amt waren, kurzsichtig als dem faschistischen ähnlich sah. Das ist einer der Gründe für die mit der Revolte beginnende politische Diskussion, in der nach anderen Gesellschaftsformen gesucht wurde, was wiederum in das Engagement verschiedener unterschiedlicher Gruppen, Grüppchen, Parteien, Gewerkschaften mündete. Vielleicht wäre das, diese Öffnung in die politische Tat, auch sein Weg gewesen, wenn er nicht auf dieser Demonstration, bei dem ersten Versuch zu handeln, den Tod gefunden hätte.

Er hat viel bewegt – als Opfer. Das Foto, das ihn am Boden liegend zeigt, das in allen Zeitungen zu sehen war, das immer wieder abgebildet wurde, das ich in Paris sah, diese junge Frau über ihn gebeugt, ihm den Kopf haltend, das Blut auf dem Boden, dieses Foto hat, wie nur Bilder es vermögen, Empörung erzeugt. Wie ein anderes Bild aus der Zeit: die aus einem brennenden vietnamesischen Dorf fliehenden Kinder, vorn das Gesicht des durch Napalm verbrannten Mädchens, ein stummer Schrei.

Bilder, die sich ins Bewusstsein einsenken, eine hochverdichtete, aus sich heraus sprechende Situation zeigen und so rationale Einsichten emotional aufladen und an die eigene Handlungsfähigkeit appellieren. Ein Kraftstoß, der nicht durch Einsicht immer wieder erneuert werden muss, sondern lang anhaltend wirkt: Du musst dich ändern. Du musst etwas tun. Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen. Ein Satz aus den Frühschriften von Karl Marx.

Das Foto, das ihn, den Sterbenden, am Boden Liegenden, zeigt, versammelt in sich christliche Motive. Diese Frau in einem festlichen schwarzen Umhang, das schwarze Gewand lässt die Arme frei, so kniet sie neben ihm, und der Blick geht nach rechts oben, die Assoziation ist nahe liegend: eine religiöse lkone. Spricht sie zu jemandem? Bittet sie um etwas? Dieses Bild zeigt die Opfersituation, auch die Zuwendung, Verzweiflung angesichts der Ohnmacht gegenüber dem Faktischen, der Gewalt, dem Tod, all das verwandelte den schon vorhandenen, aufgestauten Unwillen in den Willen zur Tat. Die Zeit war, wie es heißt, reif. Aber damit es zu solchen Wetterschlägen kommt, ist eine besondere Situation nötig, eine besondere Person, ein besonderes Bild, das sich im Bewusstsein verankert, das Erkennen mit dem Gefühl auflädt, was wiederum die analytisch gewonnene Erkenntnis befeuert.

Zunächst war noch abgestritten worden, dass der Demonstrant durch einen Schuss umgekommen sei. Gewaltanwendung von Demonstranten. Unglücklich gestürzt. Angeblich war der Schusskanal zugenäht worden. Die Obduktion, der Anwalt der Witwe, Horst Mahler, war zugegen, brachte dann die Gewissheit. Tod infolge eines Schusses aus nächster Nähe.

Ich sitze im Lesesaal des Berliner Landesarchivs, vor mir eine abgegriffene Akte, Staatsanwaltschaft Band I, zum Fall Ohnesorg, mit einem blauen Aufkleber: Geschichtlich wertvoll.

Obduktionsbericht. C. Vorläufiges Gutachten: Der 26 jähr. Student Benno Ohnesorg ist an einem Kopfsteckschuss infolge der schweren Hirnschädigung und dem damit verbundenen Blutverlust gestorben. Der Einschuss saß an der rechten Kopfseite, etwa in der Mitte des rechten Scheitelbeines, 7 cm oberhalb des Ohrenansatzes. Der Schussgang hatte die rechte Großhirnhälfte von hinten unten nach links oben durchschlagen. Das Geschoss fand sich in einer trichterförmig erweiterten Schusslücke in der linken Stirnbeinhälfte. Es handelt sich um ein deformiertes Nickelmantelgeschoss, anscheinend Kaliber 7,65 mm.

Ich lese die Zeugenaussagen von Polizisten, Demonstranten, Journalisten, Passanten. Zeichnungen vom Tatort. Flugblätter, die zur Demonstration aufrufen. Das Ergebnis des psychiatrisch-neurologischen Gutachtens vom Sachverständigen Prof. Dr. med. Cabanis zu dem Angeklagten Kurras wird in der Urteilsbegründung zusammengefasst und liest sich wie eine Textprobe aus einem absurden Theaterstück. Es lasse sich ebenfalls seiner Auffassung nach weder sagen, dass der Angeklagte in der aktuellen Situation nicht hätte anders handeln können, als er gehandelt hat, noch umgekehrt, er hätte anders handeln können, als er gehandelt hat.

Ein Satz, über den der Freund gelacht hätte.

Jetzt, bei meinen Nachforschungen, habe ich auch seine Personalakte aus dem Kolleg lesen können. Die Akte hat eine merkwürdige Geschichte. Sie war, nachdem Ohnesorg erschossen worden war, aus dem Archiv im Braunschweig-Kolleg verschwunden. Niemand kann sagen, wer sie damals entnommen hat. Die Vermutung, dass sich die Dienststellen des Staatsschutzes für diese Akte interessierten, ist nahe liegend, andererseits hätten sie die auch auf dem Amtsweg anfordern können. Vielleicht sollte jedoch gerade dieser Dienstweg vermieden werden, damit die Öffentlichkeit nicht aufmerksam würde. Man wollte vermutlich in Erfahrung bringen, ob er schon früher politisch tätig war, auch das bei der Aufnahmeprüfung erstellte Persönlichkeitsbild war sicherlich von Interesse. Ebenso rätselhaft wie das Verschwinden der Akte ist auch, wie sie wieder auftauchte. Sie wurde ohne Absender einem Mitglied des Kollegrats, einer ehemaligen Kollegiatin, aus Hannover zugeschickt.

Ich saß in einem Raum des Kollegs und blätterte in den Unterlagen, sah seine Schrift, sein Passfoto, sah die Auswertungen seines Intelligenztests, mehr als vierzig Jahre später. Der vertraute Blick in den Park, wenn ich den Kopf hob. Ich fand das Gutachten der Psychologin Frau Prof. Dr. Müller-Luckmann, erstellt im Jahr 1959, als er ein Jahr vor mir seine Aufnahmeprüfung machte.

Ohnesorg ist sehr sensibel, eindrucksempfänglich, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Er wirkt indessen zwar zart in seiner ganzen Art, aber doch nicht weich oder unentschieden. Bei aller Verhaltenheit und auch Neigung zur Introversion, bei aller Neigung zum Schönen, ist er doch weder weich noch energielos.

Leicht wird es ihm zwar von Natur aus nicht immer fallen, sich dauerhaft anzuspannen, aber er hat deutlich wirksame Motive, sich weiterzubilden, aus seinem bisherigen Niveau herauszugelangen, und man kann ihm zutrauen, dass er dieselben zielstrebig verwirklicht. Seine Intelligenz ist gut; oft wird er zwar mehr reflektieren als sich äußern, aber er hat doch Sinn für das Wesentliche einer Sache. Mitmenschlich ist er kein schwieriger Partner, vielleicht manchmal geneigt, sich auf sich selbst zurückzuzieben, aber doch ansprechbar und auch kontaktwillig. Er hat durchaus Ansätze, jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist. Ohnesorg wird empfohlen. (Dr. Müller-Luckmann)

Eine ganz erstaunliche Einschätzung, die aus einem halbstündigen Gespräch, aus den Deutungen von Zeichnungen, Schrift, Wortassoziationen gewonnen wurde. Und auch das hat seine Erfüllung gefunden, wenn auch so anders als vermutet: … jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist.

Einem fiktionalen Text würde man verweigern, was ich beim Lesen der Gerichtsakte Ohnesorg fand, dieselbe Psychologin war als Gutachterin für den Prozess gegen seinen Todesschützen bestellt worden. Zufälle, die den Anschein von einem sinnfälligen Muster haben und uns doch nur staunend befremden. Frau Prof. Müller-Luckmann schrieb, lese ich, es lasse sich nichts Sicheres über die individuelle Disposition des Angeklagten in Hinblick auf potenziell aggressive Verhaltensweise sagen.

Kurras hatte sich einem Test verweigert.

Erst langsam und während dieser Erinnerungsarbeit ist mir deutlich geworden, wie sehr ihn getroffen haben muss, dass ich unseren ursprünglichen Plan, gemeinsam nach Berlin zu gehen, kurzfristig änderte und zum Studium nach München zog. Die Lust des neuen Anfangs. Spontan war die Entscheidung gefallen und mit dem Freund nicht abgesprochen. Es muss ihm als Verrat an unserer Freundschaft erschienen sein, was mir eine romantische Vorstellung war: die Trennung nach den langen Braunschweiger Gesprächen, um irgendwann einmal literarisch voneinander zu hören, voneinander zu lesen, und sich dann – erst dann – wiederzusehen. Eine Trennung als literarische Bewährungsprobe.

Die gelebte indifférence des jungen Mannes, der ich war, die Abgrenzung von jeder sich formierenden Gruppe war verbunden mit der Weigerung, Gefühle zu zeigen, sich zu erklären, vor allem – sich zu binden. Die Bindungslosigkeit erschien als die Voraussetzung für die gewünschte intellektuelle Freiheit. Dem Freund wiederum fiel sie zu durch seine Zurückhaltung.

Das Ich, das ich war, glaubte seine Unabhängigkeit durch die Verweigerung von Dauer und fester Bindung in der Liebe zu finden, eine Haltung, die, wie erst später deutlich wurde, auch ihn, den Freund, betraf, durch meine bereitwillige und entschiedene Trennung von ihm, als wir das Kolleg verließen. Keine Bindung. Eine Zumutung dem anderen gegenüber, mit dem Wissen, sich selbst, vor allem aber dem anderen wehzutun. Keine Sentimentalität.

UWE TIMM, geboren 1940, lebt als Schriftsteller in München. Der vorliegende Text besteht aus verschiedenen Passagen seines in den nächsten Tagen erscheinenden neuen Romans „Der Freund und der Fremde“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 176 Seiten, 16,90 Euro). Nach den „Römischen Aufzeichnungen“ (1989) und „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) ist „Der Freund und der Fremde“ Timms drittes Buch mit autobiografischen Zügen – und wiederum eine Art Requiem